von Christina Antoniadou
Wenn man aus einem warmen Land nach London zieht und einem zu diesem Zweck nur zwei Koffer zur Verfügung stehen, dann sollte man das, was sich Sommerkleidung nennt, tunlichst im Land zurücklassen, wo diese Kleidung Verwendung finden kann. Von wenigen Ausnahmefällen abgesehen kann man davon ausgehen, dass einen in UK generell nur eine Jahreszeit erwartet, nämlich eine undefinierbare, die meist kalt, windig und regnerisch ist. Es ist, als ob der Frühling nahtlos in den Herbst übergehen würde. Nicht umsonst kursiert der Spruch „Es gibt in England zwei richtig große Feiertage: Weihnachten und Sommer“. Und wenn es dann ausnahmsweise schön sommerlich werden sollte, entsteht infolge der lähmenden Hitze ein kollektives Gestöhn und zum Beweis dafür landen dann gleich mehrere Betroffene mit heatstroke im Krankenhaus, ganz sicher aber zur Erfrischung im Brunnen des Trafalgar Square. Ein weiterer Spruch, der die tägliche Situation in London richtig beschreibt, und zwar jahreszeitunabhängig, ist einer, der die meteorologische Abwechslung trifft: „If you don’t like the weather, wait ten minutes.“ Tatsächlich lässt sich der Heilige Petrus so Einiges einfallen, damit keine Langeweile an der Themse entsteht.
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Um also auf den Inhalt des Koffers zurückzukommen: Wann und wo ergibt sich schon so hoch im Norden wettermäßig die Gelegenheit, Shorts und rückenfreie bzw. bauchfreie Tops zu tragen? Theoretisch so gut wie nie! Sollte man aufgrund des obigen Abschnittes, der besagten geografischen Lage und demnach der menschlichen Logik meinen … Man meint falsch! Wie so oft im Leben klaffen Theorie und Praxis nämlich weit auseinander, eine Tatsache, auf die ich in London immer wieder stoßen soll. Während unsereins auch im englischen Sommer noch mit langer Hose, Jacke und geschlossenen Schuhen ausgestattet ist, haben die Engländerinnen eine größere oder auch kleinere Auswahl an Kleidung, wobei der Begriff „klein“ auf die Dimensionen der Kleidung bezogen ist, wie der werte Leser noch erkennen wird. Wochenende ist Partyzeit und darum heißt es bye bye Mantel – falls sie überhaupt je einen besessen haben sollten –, und hello Sommerkleid. Als waschechte Engländerin lässt frau sich das Party-Outfit nicht von Lappalien wie Minuswerten verderben, also schreckt frau gewiss nicht davor zurück, auch in einer eiskalten Winternacht und bei klirrend kalter Luft großzügig ihre weißen Beine ohne Strumpfhose, dafür aber mit hochhackigen Riemchensandalen zu zeigen. Da ich während meines einjährigen Londoner Aufenthaltes keine Dame mit Feinstrumpfhose realisieren kann und auch Mädchen in Schuluniform immer nur Kniestümpfen tragen, mir jedoch keine Protestmärsche mit Transparenten und fordernder Aufschrift wie „Nieder mit der Strumpfhose, es leben die nackten Beine“ auffallen, liegt der Verdacht nahe, dass diese Erfindung den Sprung über den Ärmelkanal einfach nicht geschafft hat – aus welchen Gründen auch immer. Es ist mir lange Zeit ein Rätsel, wie sich die Londoner jungen und auch etwas älteren Frauen am Wochenende auf eine Art und Weise kleiden, die – gelinde ausgedrückt – nicht im Einklang mit den Außentemperaturen steht. Ebenso ist es mir unverständlich, wie sie sich in diesem freizügigen Outfit ins Getümmel stürzen, ohne sich dabei den Tod zu holen. Saturday night fever ohne anschließendes Fieber? Anscheinend fühlen sie die Kälte nicht. Wer schön sein will, muss bekanntlich leiden oder in London eben frieren.
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Im Folgenden soll die Aufmachung besagter Damen einer eingehenden und detaillierten Untersuchung unterzogen werden, um dem werten Leser zu veranschaulichen, warum bei vielen der Kleidchen der Eindruck entstehen muss, dass die Besitzerinnen derselbigen den so gängigen Satz „Ich habe nichts zum Anziehen“ in die Praxis umsetzen wollen. Nach diesem bewährten Motto stolpert mir eines Samstagabends eine Frau entgegen, die ein Kleid trägt, das aus einem knappen Vorder- und einem ebenso freizügigen Rückenteil bestehend nur mit Riemen an der Seite verbunden wird. Durch diesen Trick besteht tatsächlich die Möglichkeit, noch mehr nackte Haut zu zeigen. Mit den Augen taste ich die rechte Seite besagten Kleidungsstückes ab, auf der Suche nach einem ebenso winzigen Unterhöschen, einem Tanga, einem String, einem etwas … nichts dergleichen ist jedoch auszumachen, von einem BH ganz zu schweigen. Vermutlich wurden überflüssige Dessous zu Hause gelassen, damit sich unter dem eng anliegenden Stofffetzen nichts abzeichnet. Wirklich bewundernswert der Mut, den diese junge Frau zeigt. Sie zieht einfach an, was ihr gefällt, ohne sich darum zu kümmern, was für Kommentare eventuell um sie herum geflüstert werden. Ein Hoch auf den Fortschritt, der einem Freiheiten dieser Art gewährt, auch wenn den verdutzten oder auch lechzenden Betrachtern dadurch nichts, aber rein gar nichts vorenthalten wird. Während nur Touristen vom englischen Nachtleben irritiert sind und leicht überfordert dem halbnackten Partyvolk nachschauen, sind die Engländer dieses Schauspiel längst gewohnt, wiederholt es sich doch jeden Freitag- und Samstagabend: Nur ansatzweise bekleidete Frauen staksen straßauf, straßab durch Wind und Regen, manchmal sogar bei Schnee durch die frostige Nacht – so ganz ohne Jäckchen und Schal – zum nächsten Club. Zugegebenermaßen handelt es sich bei besagten wärmenden Utensilien um schrecklich hinderliche, biedere Gegenstände, die außerstande sind, solch ein knappes Kleidchen zur Geltung zu bringen.
Eins sollte man jedenfalls hinzufügen: Wenn diese Mädels in Griechenland leben und über eine griechische Mutter verfügen würden, wäre es so gut wie ausgeschlossen, in diesem halbnackten Zustand das Haus zu verlassen. Und für diejenigen, die keine Vorstellung davon haben, was es mit der griechischen Mutter auf sich hat, erlaube ich mir folgende Erklärung: Als Tochter hat man mit dem Aufzug schon fast das Erdgeschoss erreicht, da hört man die Stimme der Mutter aus dem vierten Stock durch das Treppenhaus hallen und zwar so, dass auch wirklich alle Parteien davon in Kenntnis gesetzt werden, also sowohl die Nachbarn über uns als auch diejenigen unter uns: Ach, jetzt bist du schon weg und hast doch tatsächlich deine Jacke hier vergessen! Da man sich aufgrund der 35 Grad Außentemperatur taub stellt, hat die fürsorgliche griechische Mama, die es wirklich ja nur gut meint, schon die Lösung parat, hastet zur Balkontür, reißt diese panikartig auf und schreit in den Abend hinein und zwar so, dass es auch garantiert alle Anlieger mitbekommen, denn es reicht ja nicht, dass man nur die direkten Nachbarn im selben Gebäude davon benachrichtigt hat, dass die Tochter ohne Jäckchen ausgeht: Zum Glück ist es mir ja noch rechtzeitig aufgefallen. Ich werfe sie dir runter. Fang auf! Du holst dir ja sonst noch den Tod, so ganz ohne Jacke. Im Wetterbericht heißt es nämlich, dass es heute noch kühl werden soll. Sag mal, hörst du nicht? Mit diesen Worten kommt die Jacke auf einen zugesegelt und ob man will oder nicht, man fängt das verfluchte Ding, weil es sonst auf der Straße landen könnte und die Nachbarschaft in diesem Fall Zeuge der nächsten Moralpredigt würde, deren unerschöpfliches Thema die aufopferungsvolle Rolle der Mutter ist, die sich in selbstlosen Tätigkeiten wie Waschen und Reinigen erschöpft. Da aber in der Regel für so viel Aufmerksamkeit und Fürsorge die erwartete Gegenleistung in Form von Liebesbeteuerung und Anerkennung mehr oder weniger ausbleibt, setzt die griechische Mutter zum krönenden Abschluss an, sozusagen zum verbalen Kinnhaken, der vom 4. Stockwerk heruntertönt und mit passend klagender Stimme die Undankbarkeit der heutigen Jugend anprangert. So oder so ähnlich kommt es, dass Töchter griechischer Mütter – böse Zungen behaupten sogar, dass bei Söhnen nicht anders verfahren wird – den ganzen Abend eine Jacke mit sich herumschleppen. Trotz der Affenhitze. Um wieder auf London und seine Mädels zurückzukommen: Die Stadt wäre an den Wochenenden eine andere, wenn es dort mehr griechische Muttis gäbe, denn keine der Londoner Frauen würde halbnackt herumlaufen. Folglich wäre ich dann auch nie auf die Idee gekommen, diese Geschichte zu schreiben.
Aufgrund der Tatsache, dass ich ja nun auch eine griechische Mutter habe, die mich von klein an einmummte, weise ich ein ausgeprägtes Kälteempfinden vor und warte nicht erst auf Minustemperaturen, um mich der Zweckmäßigkeit willen in Daunenjacke, Schal, Mütze, Handschuhe usw. zu hüllen. Der Blick in den Spiegel bestätigt mir leider, dass diese Aufmachung nicht gerade schick, sondern sogar sehr unvorteilhaft ist, darum bin ich unendlich neidisch auf die Engländerinnen. Ich bewundere sie wirklich, wie sie es anstellen, im Winter so freizügig aus dem Haus zu marschieren, ohne unablässig mit Entzündungen jeglicher Art befallen zu werden.
Ein Besuch bei Michelle, meiner Friseurin – so heißt die Friseuse doch neuerdings laut Duden, nicht wahr? – klärt mich wieder einmal landeskundlich auf und so stelle ich ihr diese Frage bezüglich der Entzündungen und füge Nieren und Lungen noch als typische Beispiele für Anfälligkeit hinzu. Sie lächelt mich im Spiegel an und leitet die Antwort folgendermaßen ein: Ihr deutscher Mann habe ihr anfangs auch immer diese Frage gestellt. Ich lache zurück und freue mich, dass ich nicht die einzige auf der Welt bin, die sich darüber wundert.
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Nach drei Jahren Ehe sei das Paar zu dem Schluss gekommen, dass die Briten – verglichen mit den Deutschen – einfach kälteunempfindlicher seien. Das fange bei den Briten schon im Babyalter an. Und dann beschreibt sie mir detailliert, wie ihre deutsche Schwägerin in Stuttgart ihr Baby vor jeder Spazierfahrt mit dem Kinderwagen warm einpacke, und flechtet bei dieser Gelegenheit ein, wie unnötig und verkehrt das sei. Bei uns geht es einfach luftiger zu. Von Anfang an. Schon im Mutterleib. Sogleich schildert sie mir, wie ihr Mann sich einmal furchtbar über eine schwangere Frau aufgeregt habe, die im Winter bauchfrei durch London marschiert sei. Vielleicht ist das tatsächlich eine Art lebenslange Abhärtung? denke ich laut. I am sure, it is! nickt sie ganz begeistert und erzählt wieder von ihrer Schwägerin, deren Umgang mit Kälte ihr wirklich nicht geheuer zu sein scheint. Sie verpasst dem Baby doch tatsächlich dicke Socken! Ihr Spiegelbild offenbart, dass es sich um ein ungehöriges Vergehen handelt, woraufhin ich ihren Blick anfangs mit aller gebotenen Zurückhaltung erwidere. Auf meine baldige Frage, was denn daran so verwerflich sei, antwortet sie, dass man englischen Kindern keine Strümpfe anziehe. Wozu auch? Man höre und staune! Ich überlege kurz, wo ich Ähnliches schon gesehen habe und komme zu dem Schluss, dass es wohl an den anglo-sächsischen Genen liegen muss, denn auch in den Staaten wird das Phänomen Kälte – wenn man es denn als solches empfindet, was ich zu bezweifeln wage – so gehandhabt. Während ich in amerikanischen, also eiskalt klimatisierten Räumen grundsätzlich wie Espenlaub zittre, lassen die Eltern ihre Kinder und Babys barfuß und halbnackt durch die Staaten laufen, rollen, krabbeln und kriechen. Aber offensichtlich überleben es die meisten, sonst wären die Angelsachsen ja schon längst ausgestorben. An kalten Füßen.
Tourists discovering US air conditioning
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Auch in Südafrika habe ich Kinder – wohlgemerkt weiße – bei Temperaturen um die zehn Grad gesehen, die drinnen wie draußen weder Strümpfe noch Schuhe trugen und zwar nicht, weil sich ihre Eltern diesen Luxus nicht leisten konnten. Vielleicht ist das einer der entscheidendsten Gründe, weswegen es die Briten zu einem Weltreich gebracht haben und andere europäische Völker eben nicht. Das kann ja nichts werden, wenn man immer nur mit Pantoffeln an den Füßen hinter dem warmen Ofen hockt.
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Michelle wartet gleich mit einer weiteren Anekdote aus dem gemeinsamen Leben mit ihrem deutschen Ehemann auf. Es sei noch ganz zu Anfang ihrer Beziehung gewesen, als er sie zu Weihnachten in UK besucht habe. Früh morgens sei er in ihrem Badezimmer verschwunden, und nach langem Suchen sei er leicht verstört wieder herausgekommen: Honey, where is the heater in the bathroom? In Anbetracht der Tatsache, dass es Dezember und entsprechend kalt war, sind Fragen solcher Art durchaus gerechtfertigt, wie ich finde. Michelle habe das damals schon aus einer etwas anderen, aus einer Londoner Perspektive gesehen und ihrer besseren Hälfte ganz im Ernst geantwortet, dass er erst das heiße Wasser in die Wanne einlaufen lassen solle, (unter Engländern ist das Duschen ja eher unüblich), denn der Dampf heize den Raum dann schon zur Genüge. Ihr damaliger Freund und jetziger Ehemann habe in dem Moment tatsächlich geglaubt, sie erlaube sich mit ihm einen Scherz. Erst im Laufe der Zeit habe er erkannt, dass die Briten nun einmal nicht gerade großzügig seien, wenn es ums Heizen gehe. Um dies zu bestätigen, spricht die kleine Friseure wie folgt: Geheizt wird nur, wenn es wirklich kalt ist. Ich verkneife mir die Frage nach der Definition von „wirklicher Kälte“, da es sich eindeutig um eine subjektive Empfindung handelt …
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Um wieder auf die rudimentär bekleideten, jungen Frauen zurückzukommen: Diese wüssten genau – so werde ich belehrt –, wie kalt und windig es draußen sei, würden aber dennoch nicht einsehen, warum sie deswegen unten herum auf Minirock und oben herum auf knappes Blüschen verzichten sollten. That’s why you start drinking at home, even before you go out. So ein hausgemachter Schwips bevor man sich gemächlich zum Aufbruch anschicke, bringe nämlich zweierlei Vorteile, einerseits sei es eine Kostenersparnis verglichen mit den Preisen im Club oder im Pub und andererseits hebe er die Stimmung samt Körpertemperatur, und zwar erheblich. Mir war stets bewusst, dass alles, was einheitlich und ausnahmslos zu einer durchzechten Nacht gehört und somit unter die Sparte Feiern, Amüsieren und Spaß fällt, in nordeuropäischen Ländern mit drei Aktivitäten kombiniert wird, nämlich trinken, trinken, trinken. Jedoch wäre ich nicht direkt auf den Gedanken gekommen, dass Alkohol ebenso der Abhärtung dient, begrenzter Kleidung entgegenwirkt und wohlmöglich Bakterien abwehrt. Es macht allerdings Sinn, wenn man bedenkt, dass die Betroffenen nach ein paar Gläsern Wodka nicht mehr realisieren, dass sie sich in einem halbnackten Zustand befinden.
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Während Michelle auf meiner Kopfhaut herumpinselt, teilt sie mir mit, dass binge drinking – die britische Entsprechung für Komasaufen oder auch Rauschtrinken – ebenso auf Plätzen und Bürgersteigen stattfinde, immer wohlgemerkt mit Hilfe von erschwinglichem Stoff aus dem Supermarkt um die Ecke. Der Besuch im Pub sei dann lediglich der krönende Abschluss der Wochenend-Sauftour. Gleiches gelte ebenso für das lange Anstehen am Eingang der Clubs. In den unendlich langen Schlangen werde diese wertvolle Wartezeit ebenfalls zweckmäßig verwertet und mit Hilfe von mitgeführtem Alkohol zur Einstimmung verkürzt. Sie nennt das Kind beim Namen: Um warm zu bleiben, bedarf es einer ausgetüftelten Strategie: Wer betrunken ist, spürt nichts. Alkohol betäubt die Kälteschmerzen. Man muss viel tanzen und viel Wodka trinken.
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Etwas später rückt Michelle mit einer Information heraus, der ich einige Minuten lang nichts hinzuzufügen habe, einfach weil ich genau diese Minuten benötige, um das soeben Vernommene zu verinnerlichen. Wenn ich Michelle richtig verstanden habe, ziehen partylustige Mädels zwecks Bekämpfung der Kälte einen Joker aus dem Ärmel, wobei es sich bei dem Begriff „Ärmel“ um ein Paradoxon handelt, denn die dünnen Spaghettiträger lassen keinen Platz für unnütze Teile wie beispielsweise wärmende Ärmel. Ob der werte Leser es glaubt oder nicht, bei dem Joker handelt es sich um ein bewährtes durchblutungsförderndes Hausmittelchen, das auf den Namen Wärmecreme hört. Um also sicher zu gehen, dass man temperaturmäßig die ganze Nacht durchhält, greift man zum Erfolg verheißenden Mittel und schmiert sich flächendeckend damit ein. Die Wirkung dieser Maßnahme tritt unverzüglich ein, denn die Durchblutung wird gesteigert und starke Wärme erzeugt, sodass einem auch Außentemperaturen um den Gefrierpunkt nichts mehr anhaben können. Und da generelles Jacken- bzw. Mantelverbot erteilt ist, Mützen, Schals und wie gesagt sogar Strumpfhosen verpönt sind, ist man mit der Creme gut bedient. Michelle weist mich drauf hin, dass man mit Hilfe dieser Creme einem weiteren Problem beikommt: Man verliere keinen einzigen Mantel. Am Ende der Party sei man nämlich so happy – ich tippe aufgrund der konsumierten Alkoholmenge ja eher auf wasted, der den Begriffen „sternhagelvoll, dicht, knülle“ und vielen anderen scherzhaften Ausdrücken entspricht, die allesamt den weniger scherzhaften Zustand der Unzurechnungsfähigkeit beschreiben, aber das ist an dieser Stelle vermutlich sekundär –, man sei also so happy, dass man kleidungsähnliche Dinge am Tresen oder gar in der Garderobe nicht mehr wahrnehme. Folglich lasse man sie dort liegen und nach höchstens zwei Monaten stehe man vor einem leeren Kleiderschrank, dafür seien aber mehrere Wirte in London im Besitz von ebenso vielen schicken Damenjacken und -mänteln.
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Als ich im Kreise von Freundinnen, die schon länger in London leben, dieses Phänomen anspreche, geben sie mir eine etwas andere Erklärung dafür: Da sie regelmäßig die großen, gehobenen Clubs und Diskotheken besuchen, wissen sie aus Erfahrung, dass dort high heels und Minikleid Pflicht sind. Die Türsteher lassen einen sonst – trotz Reservierung – nicht hinein und ein dicker Wintermantel erweist sich somit erst recht als hinderlich. Er sei einfach nicht schick genug. Wort-wörtlich fügt eine Freundin aufgrund meines verdutzten Gesichtsausdruckes recht trocken hinzu: Ohne Freizügigkeit und hohe Hacken geht gar nix. Frauen im Nachtleben haben gar keine andere Wahl als sommerlich gekleidet herumzulaufen. Außerdem ist es in den Clubs wahnsinnig heiß … Auf meine Frage, ob ähnlicher Dresscode in Clubs zwecks Gleichberechtigung denn auch für Männer gelte, zuckt sie nur mit den Schultern und fragt mich, ob mir denn nie aufgefallen sei, dass Männer manchmal hierzulande im Winter Shorts, Polohemden oder T-Shirts tragen. Tatsächlich zeigen auch Männer trotz winterlicher Temperaturen nicht selten erstaunlich viel Haut, wenn sie sich ins Nachtleben stürzen. Oft genug entledigen sie sich sogar der hinderlichen Kleidung und torkeln dann mit freiem Oberkörper oder nur in Boxershorts der Nacht entgegen. In einem recht angeheiterten Zustand, versteht sich.
Es sei dahin gestellt, ob die Kälteunempfindlichkeit der Engländer auf ihr Trinkverhalten oder auf die fehlenden Socken im Babyalter oder eventuell sogar auf beides zurückzuführen ist. Eins ist gewiss, den Briten – und wie es scheint auch dem weiblichen Anteil dieses Volkes – eilt der Ruf voraus, infolge des exzessiven Alkoholkonsums besonders trinkfest zu sein. Vermutlich sind sie diesbezüglich nur noch von den Finnen zu schlagen, deren Vokabular doch tatsächlich über den Begriff „Kalsarikännit“ verfügt, welcher wie folgt übersetzt werden könnte: wenn man sich allein zu Hause in Unterhosen betrinkt – ohne jegliche Absicht, noch auszugehen. Eindeutig besteht eine Parallele zwischen diesen zwei Völkern, auch wenn sie sich historisch wohl nie begegnet sind. Das Komasaufen, das berühmt-berüchtigte Kampftrinken bis zum Umfallen dürften beide Nationen übrigens ebenso gemeinsam haben.
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Doch zurück zu Michelle und ihrem aufschlussreichen Vortrag über britische Partygirls: Um fünf Uhr in der Frühe setzt sich die erste London Underground – von wenigen Linien abgesehen, die auch nachts fahren – meist wieder in Bewegung, so dass sich die alkoholisierten Damen in Richtung home aufmachen können und trotz vollgelaufenen Zustands noch in der Lage sind, die Badewanne mit heißem Wasser ebenso voll laufen zu lassen. Zweck dieser Aktion ist es, den inzwischen unterkühlten Körper wieder auf Vordermann zu bringen. Erst dann und wenn man nicht im heißen Wasser in der Badewanne eingeschlafen oder ertrunken ist, legt man sich mit einer Wärmeflasche ins Bett und versucht tags darauf, durch Inhalieren von Eukalyptus-Dämpfen und Teetrinken wieder fit zu werden, weil es am Montag erneut zur Arbeit gehen muss. Dort warten die Kollegen schon ganz gespannt darauf zu erfahren, auf was für eine spektakuläre Art und Weise man sein Wochenende verbracht und wie ausgelassen man gefeiert hat und darum scheut der Brite weder die Mühe einer gründlichen Vor- noch die einer sorgfältigen Nachbereitung für einen vortrefflich nassen Abend. Nun gut!
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Seit ich meiner besseren Hälfte detaillierten Bericht erstattet und ihm diesen aufschlussreichen Einblick in die britische Partywelt samt erdenklichen Vorkehrungen vermittelt habe, ist er übrigens nicht mehr der Auffassung, dass die Zeit bei der Friseurin eine vergeudete ist. Michelle sei Dank, dass wir nächtliche Polizeiaktionen in der Londoner Innenstadt nicht mehr in bleichem Entsetzen, sondern nur noch mit angewidertem Unverständnis quittieren. Wir werden nämlich hin und wieder Zeugen folgender Ungeheuerlichkeit, die, wie sich alsbald erweist, wahrlich keine Ausnahme ist: Zwei Polizisten nehmen sich in London einer Alkoholleiche an, nachdem sie diese auf irgendeiner unappetitlichen Toilette, auf dem klebrigen Fußboden eines Pubs, auf der Straße, auf dem Bordstein oder in der tube station inmitten von omnipräsenten leeren Flaschen und Dosen entdeckt haben. Der Versuch, diese bewusstlose, oft nur dürftig bekleidete Person, die alle Viere von sich gestreckt hat, aufzulesen, erweist sich als ein schwieriger und erfordert vereinte Kräfte. Irgendwann schaffen es die Uniformierten, die beiden Arme der völlig unzurechnungsfähigen Person über ihre jeweilige Schulter zu ziehen, sodass sie sich zwischen den Polizisten befindet. Mit nach unten hängendem Kopf wird die ehemals feierwütige Person abgeführt, während ihre Beine kraftlos auf dem Boden schleifen.
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Da sich uns dieses Bild in hübscher Regelmäßigkeit bietet, schauen wir schon bald nicht mehr hin, sondern fragen uns nur, warum sich jemand derart entwürdigend benehmen muss. Eine zugegebenermaßen sehr traurige Frage bezüglich der Trinkfestigkeit der Briten …
https://www.youtube.com/watch?v=IhyOFsl5lyU
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Herzlichen Dank an Ute Petkakis für das Gegenlesen!
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Beitragsbild:https://www.watson.ch Foto: rex dukas
Mein lieber Himmel, also man kann so etwas wirklich nicht verstehen. Mich würde interessieren zu wissen, warum die Briten so viel trinken. Worauf das zurückzuführen ist, meine ich.
Du Christina hast wieder ganze Arbeit geleistet, uns das so super bildlich näherzubringen. Toll beschrieben, aber auch die passenden Fotos dazu gefunden.
Herzlichen Dank für die Blumen!
Warum sowohl die Briten, als auch andere „nordische“ Völker so eine Vorliebe für Alkohol haben, kann ich dir leider auch nicht erklären. Gewohnheit? Tradition? Imitation? Mentalität? Vielleicht spielt das Wetter eine Rolle? Oder gar die Tatsache, dass es im Winter früher dunkel wird? Vielleicht ist diese Frage ja wissenschaftlich erforscht worden … wäre interessant zu erfahren!
Sehr witzig geschrieben, vielen Dank! Da mein neuer Lebensgefährte Engländer ist und wir wahrscheinlich in England leben werden, echt gut zu wissen. Es bleibt spannend!Liebe Grüße aus dem Schwarzwald
Allerherzlichsten Dank! Viel Spaß in UK!
Ich fand die Beschreibung der griechischen Mutter perfekt!!! So war meine Oma auch (Schmunzeln). Zu dem Trinkverhalten möchte ich mich nicht äußern … Man sieht ja leider auch genug davon hier auf den Inseln …
Die griechische Mama ist schon eine Nummer für sich!
Tja, was auf einigen Inseln alkoholmäßig abgeht, ist leider sehr sehr traurig. Einfach Schade, wie einige Touristen ihren Urlaub „gestalten“.
Ach, was für ein herrlicher Artikel! Als Deutsche mit griechischem Mann (und angeheirateter griechischer Familie) in Uk lebend wundere ich mich auch nach mehr als 25 Jahren immer noch so sehr wie am ersten Tag über dieses Phänomen! Es hat sich seit damals absolut nichts geändert. Ich vermute allerdings, dass man in den 90ern wenigstens noch Unterwäsche beim pub-crawl trug. Meine armen Kinder mussten übrigens immer bei von mir diagnostizierter Kälte, nicht nur im Winter und bei Regen Anoraks tragen. Allerdings haben ihnen die Schulen das nach kürzester Zeit ausgetrieben!! Das war ein ewiger Kampf, dabei habe ich so gar nichts von einer griechischen Mutti. GsD habe ich Söhne und keine Töchter, sonst hätte es mit Sicherheit seit ihrer Teenagermutantenzeit permanent gekracht!! Ich halte es gerne mit Monty Python… „…die spinnen, die Engländer!“
Herzlichen Dank für die Blumen!
Das will schon was heißen, wenn man sich nach 25 Jahren immer noch darüber wundert! Würde mir vermutlich nicht anders gehen. Zumindest sind deine Kinder gegen Kälte abgehärtet. Ich finde das – als Frostbeule, die ewig erkältet ist – total praktisch …
Interessante Einblicke!!! Jeder feiert eben wie es ihm gefällt. Wenn es die englischen Mädels glücklich macht …! Mein Ding wär´s nicht. Auf jeden Fall ist es auch diesmal eine Geschichte voll von überraschenden Momenten.
Jedem das Seine! Freut mich, dass du die Geschichte trotzdem interessant findest. Auch wenn es nicht dein Ding ist…