Do You Speak (BBC-)English? - Home Is Everywhere

von Christina Antoniadou

 

Du benötigst die NINO. Mit diesen Worten leitet meine bessere Hälfte das Gespräch beim Abendessen ein, und zwar genau zwei Tage, nachdem wir in unsere möblierte Wohnung in Canary Wharf eingezogen sind. Mein unmissverständlicher Blick und die Augenbrauen, die in solchen Situationen gewöhnlich nach oben schnellen, signalisieren ihm, dass es einer Erklärung bedarf. Es handelt sich um die National Insurance Number, also die Sozialversicherungsnummer. Die braucht jeder hier in UK, um überhaupt existieren zu können. Ohne diese Nummer kannst du nicht arbeiten. Gleichzeitig schiebt er mir einen Zettel zu, auf dem eine Telefonnummer notiert ist. Diese Hotline solle ich morgen anrufen und einen Termin bei dem zuständigen „Job Center plus“ vereinbaren. Das ist so eine Art Arbeitsamt, erklärt er mir, bevor ich ihn fragend anschaue.

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Gut gelaunt gehe ich den nächsten Tag an und freue mich schon sehr auf dieses Telefonat. Ich darf bei dieser Gelegenheit einflechten, dass ich erst seit drei Wochen in London lebe und bis jetzt nicht wirklich die Gelegenheit hatte, ein praxisorientiertes Gespräch zu führen, außer vielleicht mit dem einen oder anderen Makler zwecks Wohnungssuche. Ansonsten stelle ich immer nur eine dieser einfältigen Besucher-Fragen nach dem Weg oder nach dem nächsten Supermarkt. Bis jetzt unterscheide ich mich also in keinster Weise von einem lästigen Touristen, der danach fragt, ob es noch weit ist bis zum Trafalgar Square. Endlich bietet sich mir die Gelegenheit, einen „richtigen“ Engländer in ein angeregtes und vor allem „authentisches“ Gespräch zu verwickeln, so eins wie man uns früher stets mit Hilfe von Kassetten im Sprachlabor vorspielte – als es noch an den Gymnasien Sprachlabor und Kassetten gab. Meine Vorfreude auf das Telefonat ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass Englisch immer mein Lieblingsfach in der Schule war, wozu gewiss meine Aussprache beitrug. Als bilingual aufgewachsenes Kind habe ich eben nicht wie meine einsprachigen Mitschüler beim Anblick eines Baumes ein germanisches [sɪs ˈɪs ɑː ˈtri] gezischt, sondern mit internationalem Elan und arrogantem Gehabe das „r“ vorschriftsmäßig rollend ein der britischen Sprache nicht unähnliches [ˈðɪs ˈɪz ə ˈtri] von mir gegeben. Meine gute Aussprache wurde netterweise vom Englischlehrer gebührend gelobt, was mir aber den Ruf des ewigen Besserwissers und einer Reihe ebenso unschöner Beinamen einbrachte.

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Nicht genug damit, musste der Englischlehrer – der liebenswerte Mensch meinte es ja eigentlich nur gut – auch noch unnötigerweise dafür sorgen, dieses Stereotyp über die Maßen zu strapazieren und erkor mich obendrein – in Ermangelung eigener englischklingenden Aussprache – zum laut vorplappernden Musterbeispiel. In hübscher Regelmäßigkeit durfte ich die Klassenkameraden vorbildlich freundlich auf ihre Fehler aufmerksam machen, indem ich die Wörter vorsprechen sollte, die mit „th“ ausgestattet waren, sodass auch die Schüler auf den hintersten Plätzen eine Ahnung davon bekamen, wie sich die dentalen Laute «δ» und «θ» normalerweise anhören. Immer wieder stellte sich heraus, dass sie der gestellten Aufgabe einfach nicht gewachsen waren: Sie schafften es nicht, die Zunge zwecks phonetischer Vollendung zwischen die Zähne zu platzieren. Die Aussprache der Mitschüler verbesserte sich darum nur unwesentlich, es blieb weitest gehend bei den hart klingenden Zischlauten. Stattdessen erntete ich jede Menge irritierter Kommentare, denn Laute, die es in der eigenen Sprache nicht gibt, hört man konsequenterweise kaum und kann sie somit nicht wiedergeben, sondern passt sie der Einfachheit halber auch weiterhin der eigenen Muttersprache an.

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Voller Stolz auf diese glorreiche phonetische Vergangenheit, (um wieder auf unser UK-Thema bezüglich der NINO zurückzukommen) lege ich mir also vor dem Telefonat zur Sicherheit das geeignete englische Vokabular zurecht, denn schließlich wollen wir länger in London bleiben, da sollte man sich doch Mühe geben, dem perfekten BBC-Englisch so nahe wie möglich zu kommen. Bevor ich also die Nummer eingebe, setze ich meinen ganzen Ehrgeiz darin, einen möglichst britisch klingenden Stil anzunehmen und murmle einige Male [heˈləʊ, ˈðɪs ˈɪz krɪsˈtiːnə ˈspiːkɪŋ] vor mich hin, indem ich den Satz jedes Mal anders betone. Um das Maximum an „british“ zu erreichen, gehe ich sogar noch einen Schritt weiter und forme meine Lippen derart, dass sie dem britischen stiff upper lip am nächsten kommen. Als ich in Gedanken schon bei [ˈθæŋk ˈjuː ˈfɔː ˈjɔː ˈhelp] ankomme, schließe ich zur Steigerung des Effekts die phonetische Übung mit einem gekonnt britischen Räuspern … und wähle die Hotline.

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Am anderen Ende der Leitung ist ein Herr zu hören, der etwas sagt, was ich auf Anhieb eher dem Chinesischen, oder besser gesagt, dem Mandarin zuordnen würde (soviel ich weiß, gibt es kein Chinesisch, sondern nur chinesische Sprachen!), dabei bin ich außerstande, zwischen Vietnamesisch, Japanisch, Koreanisch und eben Mandarin zu unterscheiden. Auf jeden Fall handelt es sich um eine sehr ostasiatisch klingende Sprache, zu der eine Person mit netten mandelförmigen Augen passen würde. Da ich mich nicht zu Worte melde, wiederholt der Asiate – falls es nun einer sein sollte – seinen Satz, doch auch dieser Versuch erleichtert die Kommunikation nur bedingt. Mit dem Handy ans Ohr gepresst mache ich gewiss einen recht unbeholfenen Eindruck. Als er diesen unverständlichen Satz zum dritten Mal durch die Leitung schickt, lege ich kurz entschlossen auf. Ich kann mich eigentlich nur verwählt haben, denke ich und hoffe inständig, nicht in China angerufen zu haben. Also starte ich einen erneuten Versuch und gebe die lange Nummer etwas vorsichtiger ein, um aufkommende Missverständnisse und vor allem eine hohe Telefonrechnung so gut es geht zu vermeiden.

Eine Dame mit schriller Stimme meldet sich dieses Mal und fragt etwas, was sich unter Hinzunahme von viel Fantasie in etwa wie ‘How may I help you’ anhören könnte. Trotz der ganzen Übungen im Sprachlabor und der hervorragenden Noten im Englisch-Leistungskurs, geschweige denn der ganzen Vorbereitung mit britischer stiff upper lip bekomme ich nur ein spärliches sorry über die Lippen, woraufhin die Dame ihre Frage noch schriller wiederholt: How may I help you? Vor vollendeten Tatsachen gestellt wage ich die Frage: Is this the „Job Center plus“? und bekomme sofort die Antwort darauf: Yes, it is. How may I help you, madam? Wenn das Oxford Englisch ist, bin ich der Kaiser von China! Es ist zwar Englisch, aber es hört sich völlig mutiert an; die Silben werden gekürzt, ja ich möchte fast sagen, gebellt. Da ich nichts darauf erwidere, möchte die Dame nachhelfen und ich meine, folgende Frage herauszuhören: So did you call to apply for a NI number? Das „r“ ist zwar ein rollendes, aber keineswegs eins wie ich es aus dem Mittelmeerraum oder aus dem Sprachlabor gewohnt bin, es ist ein eher hartes, langes, ich bin fast geneigt zu sagen ein bayrisches „r“, das sich durch viele krächzende und bellende Silben hindurchrollt. Yes, I do need a NI number, sage ich schon etwas mutiger, aber immer noch mit belegter Stimme. Daraufhin höre ich ein durch Kurzvokale misshandeltes Englisch, denn diese Dame scheint über keinerlei Langvokale zu verfügen. Ok, that means you need it for paying taxes? Ein einfaches Yes erscheint mir ausreichend, obwohl ich das Gefühl habe, dass das ihrerseits gar keine Frage, sondern eher eine Feststellung war. Bei einer Frage geht die Stimme am Ende doch eigentlich hoch, oder? Nicht so im Falle dieser Dame. Ich bin mir nicht schlüssig, ob ich etwas von mir geben muss.

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Just in diesem Moment hätte ein scharfer Beobachter bei mir gewisse Anzeichen von Nervosität entdecken können, zumal der ehemaligen Schülerin mit der guten Aussprache immer bewusster wird, dass sich Sprachlabor und Leistungskurs aus der fernen Vergangenheit als unzulänglich erweisen. Bei der nächsten Frage, die sie mir stellt, bitte ich sie mit aller gebotenen Zurückhaltung darum, doch bitte langsamer, lauter und etwas deutlicher zu sprechen, da ich ihr sonst nur bedingt folgen könne. Meine Bitte trägt zwar nicht entschieden, aber doch immerhin minimal zum verständlicheren Ablauf des Gesprächs bei. Zumindest für die nächsten zehn Sekunden, denn danach schaltet die Dame wieder auf diesen Dialekt um, den ich in meiner Verzweiflung als Schottisch oder sogar als Gälisch zu identifizieren glaube. Nachdem ich meine, verstanden zu haben, dass ich ihr meinen vollen Namen, Adresse und Telefonnummer durchgeben solle, redet sie eingehend auf mich ein, sodass Sprachlabor, Leistungskurs und blendende Noten endgültig an Wert verlieren. Let alone my accent …

Im Verlauf des nun einsetzenden Prozesses bestehend aus Rückfragen, Wiederholungen, Erklärungen und Anmerkungen zwecks Vermeidung von Missverständnissen ist zwar immer noch nicht eindeutig geklärt, was gesagt wurde, aber meine Vermutung tendiert sehr stark dahin, dass ich nunmehr einen Termin für dieses leidige Interview bekommen habe. Über das genaue Datum kann ich nur wage spekulieren. Die Zahl, die den Worten there is an appointment slot available for … folgt, ist nicht eindeutig zu identifizieren. Es könnte sich entweder um den 13. oder aber auch um den 30. dieses Monats handeln. Glücklicherweise schiebt sie noch eine Frage hinterher, die in etwa wie folgt lauten müsste: So will you be able to make it next week on that day? und der ich entnehme, dass ich nächste Woche dort erscheinen soll, also muss es wohl oder übel der 13. sein. Erleichtert bestätige ich my availability for that day und bringe ein krächzendes it is ok for me hervor. Doch die Tortur ist nicht zu Ende, denn sie gibt mir noch die reference number for your request durch und versichert mir, dass mir ohnehin alle Details per Post zugesandt würden. Letzteres ist meine einzige Rettung, denn ein Blick auf das Mitgeschriebene – ein einziges Gekrakel – lässt Zweifel an der Korrektheit der Nummer aufkommen. Außerdem habe ich nicht im Mindesten verstanden, wo zum Kuckuck ich überhaupt erscheinen soll.

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Als ich mit einem übertriebenen Thank you so much and have a nice day auflege, ist mir flau im Magen und viel zu spät fällt mir ein, dass ich die Uhrzeit für besagten Tag nicht vernommen habe. Was wird dieses Interview bloß für ein Desaster, wenn ich schon außerstande bin, telefonisch nach einem einfachen Termin zu fragen! Und was für Englischkenntnisse habe ich mir da all die Jahre angeeignet, die es mir nicht erlauben, mit einer Schottin telefonisch zu kommunizieren? Die letzten Reste meines sonst so ausgeprägten Selbstbewusstseins schwinden dahin. Moment mal! Meine Schuldgefühle machen alsbald einem neuen Gefühl Platz. Ein leiser Groll gegen diese Hotline keimt in meinem Innern auf. Was für ein kundenunfreundliches Verhalten ist das? Was für ein schlechter Service! Was für eine Unüberlegtheit, solche wichtigen Positionen mit Angestellten zu besetzen, die unverständliches Englisch sprechen, wo man doch erwarten muss, dass sich ausschließlich Ausländer an sie wenden werden.

Zum Glück kommt das Schreiben nur wenige Tage später und bestätigt das Datum, das ich mehr durch Glück als durch Verstand, mit Sicherheit nicht durch Wahrnehmung richtig vermutet hatte. Außerdem erfahre ich jetzt endlich, wo das berüchtigte Interview stattfinden wird, nämlich in der West Tender Street. Während ich mich noch vor einigen Tagen über den mangelhaften Service hierzulande mokierte, muss ich heute zugeben, dass die Briten mehr als aufmerksam sind! Dankenswerterweise sind die Information, an welcher tube station man am besten aussteigen sollte, auch gleich mit angeführt: Aldgate oder Aldgate East. Das ist ja ganz in der Nähe, freue ich mich und suche mit Hilfe der App den Routenplaner heraus. Trotz der unmittelbaren Nähe sehe ich mich genötigt, mich fast all der Transportmittel zu bedienen, die London für mich und den Rest seiner 9 Millionen Bewohner bereit hält, als da wären DLR, London Overground und am Ende die einfache tube. Wahrlich unglaublich, dass man für so eine kurze Strecke zwei Mal umsteigen muss!

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Beim Planen der Route finde ich ganz nebenbei heraus, dass in dieser Gegend um Aldgate East und Whitechapel herum Jack the Ripper sein Unwesen getrieben und die Morde an Prostituierten begangen hat. Was für eine wunderbare Gelegenheit, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden und aus einer verwaltungstechnischen Angelegenheit einen Ausflug in die Vergangenheit Londons zu machen. Vor meinem geistigen Auge laufe ich durch die Gassen, um die Umgebung auszukundschaften, die Mitte des 19. Jahrhunderts explosionsartig anwuchs. Durch die große Hungersnot in Irland siedelten sich viele Flüchtlinge in der Gegend East End an und einige Jahrzehnte später kamen infolge der Judenpogrome noch große Mengen Zuwanderer aus Osteuropa hinzu. Ich kann es kaum erwarten, mir die Auswirkungen dieses interessanten Multikulti aus der Nähe anzuschauen.

An dem besagten 13. des Monats also schicke ich mich gemächlich zum Aufbruch an und reise – anders kann man die Fortbewegung mit drei verschiedenen Transportmöglichkeiten nicht beschreiben – dem Interview entgegen. Obwohl die App ausrechnet, dass ich nur etwas über 20 Minuten brauche, um an mein Ziel zu kommen, fahre ich eine gute Stunde früher los, was sich als nicht unklug erweist. In Aldgate East angekommen schaffe ich es, den Weg aus der zum Platzen vollen, atembeklemmenden tube zu finden, nicht ohne einigen Mitreisenden mit aufeinander folgenden treuherzigen sorry, I am so sorry auf die Füße treten zu müssen. Auch auf der Plattform herrscht reges Treiben, denn diese U-Bahn-Station ist eine einzige Baustelle, sodass ich meine liebe Not habe, mir den Weg zur Whitechapel High St zu bahnen. Geschafft!

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Beim Blick in die Außenwelt bildet sich meine bekannte senkrechte Falte auf der Stirn. Keine Frage, ich bin in einem anderen Land angekommen. Auch beim zweiten Blick ändert sich nichts an diesem Eindruck. Wenn es nicht diese 20 Minuten Fahrzeit gewesen wären, die das Verlassen Großbritanniens unmöglich machen, ich könnte wahrlich schwören, dass ich mich irgendwo – um es mit einem annähernd zutreffenden bzw. weitgreifenden Begriff zu sagen – im Orient befinde. Da es mir unzweckmäßig erscheint, auf dem Absatz kehrt zu machen, hole ich mein iPhone aus der Tasche. Google maps verrät mir mittels blauen vibrierenden Punkt meinen aktuellen Standort. Auch der letzte Zweifel wird somit beseitigt: Ich bin immer noch in London. Im Osten Londons. Ob womöglich etwas mit meinem iPhone nicht stimmt? Der Akku ist voll, daran kann es also nicht liegen. Eigenartig!

Als Person, die gern in jeder Situation die nötige Kontrolle behält, starte ich behutsam und mit einem gewissen Unbehagen die Expedition ins Ungewisse und folge den directions meines iPhones. Mit unguten Ahnungen erfüllt passiere ich verschiedene Geschäfte, die mitnichten an das 19. Jahrhundert oder gar an den unseligen Jack the Ripper erinnern. Verstört stelle ich fest, dass nicht ein Geschäft, nicht ein einziges Pub wirklich britisch, irisch, russisch oder gar jüdisch ist. Sämtliche Schaufensterpuppen sind in indische Saris gehüllt und gehen dabei den bekannten zweistöckigen Pelikan-Farbkasten durch, ergänzt durch viel Gold, sei es im Stoff eingewoben oder als Schmuck. Aus der Masse an solchen Geschäften schließe ich, dass sich in dieser Gegend genügend Abnehmer dafür finden lassen werden.

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Tatsächlich schlurfen an der vor einem Schaufenster stehenden und auf die Auslagen fixierten Europäerin mehrere Sari-tragende oder in lange, farbenfrohe Tücher gehüllte Frauen vorbei und haben ihre liebe Not, die Flip Flops an den Füßen nicht zu verlieren. Auch verschleierte Frauen scheint es hier in Hülle und Fülle zu geben, bei manchen ist das Gesicht ganz verdeckt, andere wiederum haben ein Fenster für die wunderbar geschminkten Augen frei gelassen. Sie stecken in weiten, schwarzen Gewändern, die bis zu den Knöcheln reichen und nichts vom Körper erahnen lassen. Verhuscht wirken sie und genauso schleichen sie an mir vorbei, ihr Gesicht oft schamhaft hinter dem Schleier versteckt, im Schlepptau Kinder im Vorschulalter, ein Kleines in einem Tuch umgehängt und das nächste im Bauch.

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Cafés, Friseurläden und Musikshops, in denen man sich auch Videos aus der Heimat ausleihen kann, reihen sich aneinander, auf höchster Lautstärke dudeln überall lang gezogene Klänge, die arabisch anmuten, aber geografisch auch weiter östlich angesiedelt werden könnten. Ich komme an mehreren dieser Cafés vorbei, bis ich an einem meinen Blick schweifen lasse. Dort sitzen ausschließlich Männer, meist mit Bart, oft mit Kopfbedeckung, einige sogar mit Turban. Viele tragen ein Wickeltuch, andere ein bodenlanges Gewand, andere knielange Hemden und weiße Hosen. Relaxed und nach dem Motto „nur keine unnötige Hast“ sitzen sie beisammen, trinken Tee, essen Süßspeisen, die in grellem Gelb und Rosa leuchten, rauchen Shisha und schauen sich das Treiben auf der Straße an. Kurzum, sie scheinen den Tag mit beständiger Muße zu verbringen. Gebannt von dem orientalischen Umfeld merke ich nicht, dass Ruhe eintritt, dass ihre mir völlig unbekannte Sprache nicht mehr zu vernehmen ist. In meiner Naivität bin ich vermutlich in das, was man Privatsphäre nennt, eingedrungen, denn zu lange schon stehe ich vor den Herrschaften und gaffe indiskret. Durchdringende Blicke sind die Folge. Auf ihren Gesichtern machen sich deutliche Zeichen von Misstrauen bemerkbar. Ich entferne mich peinlich berührt.

Im Einklang mit der Umgebung bietet der Metzger Halal-Fleisch. In der Luft hängt ein Hauch von scharfem Curryduft. In einiger Entfernung sehe ich Männer mit Gebetskappen aus einem Backsteinbau schlurfen und erkenne, dass es eine Moschee ist. Vor einem Gemüseladen tätigen zwei Frauen mit Kopftuch ihren Einkauf, indem sie sich – jede einen Blumenkopf in der Hand haltend – angeregt austauschen. Mit gewinnendem Lächeln und einer einfach formulierten Frage möchte ich sicherstellen, dass ich tatsächlich in London bin und die korrekte Richtung eingeschlagen habe. Der Begriff „Job Center plus“ trägt entscheidend zur Verständigung bei. Wie auf Kommando geben mir die Damen ausdrücklich zu verstehen, dass ich mich auf dem richtigen Weg dorthin befinde. Und dies zwar freundlich lächelnd, jedoch ohne auch nur eine Silbe auf Englisch geäußert zu haben. Unter lebhaften Dankesbekundungen setze ich meinen Weg fort.

Wirklich eigenartig! Auf dem Stadtplan sieht es so aus, als ob man nur einen Katzensprung vom Finanzviertel entfernt ist und nun stelle ich fest, dass ich mich in Südasien befinde. Ich bin noch zu neu in der Stadt um zu wissen, dass die City sich von hier aus zu Fuß erreichen lässt und dass London ein typisches Beispiel dafür ist, dass zwei oder auch drei oder auch mehr verschiedene Welten nebeneinander existieren können. Erst später erfahre ich, dass sich das „Job Center plus“ in der Nähe von Brick Lane, der „Curry-Meile“, eine der bekanntesten Straßen Londons, befindet, wo arme Einwanderer aus Indien, Pakistan und Bangladesch wohnen. Viele leben in der 3. Generation hier, ihre Großeltern – meist sunnitische Bengalen – kamen Anfang der 1960er Jahre aus dem Osten Bangladeschs nach London. Heute ist dieser Stadtteil – Tower Hamlets – einer der ärmsten Kieze Londons, wo Messerstechereien im Bandenmilieu nicht allzu selten sind. In erstaunlicher Schnelle verwandelte sich diese Gegend in „Banglatown“, wie sie nicht umsonst von Einheimischen genannt wird. Hier klopft das Herz der Gemeinde British-Bangladeshi, Londons Szene-Stadtteil und das Zentrum für südasiatische Restaurants und unzählige Straßenmärkte, die dafür sorgen, dass es in dieser Gemeinde besonders voll und kunterbunt wird. An den exotischen Essenständen schlemmen sich Touristen auf der Suche nach Multikulti gut und gerne durch Asien. Die Bengalen haben es geschafft, die demographische Landkarte in dieser Gegend auf den Kopf zu stellen, denn sie machen mittlerweile ein Drittel der Bevölkerung aus. Wo wohl die jüdische, russische, irische und nicht zuletzt die britische Bevölkerung abgeblieben ist?

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Meine Freude, das Ziel erreicht zu haben, ist grenzenlos. Im „Job Center plus“, setze ich mich von den Eindrücken auf der Straße etwas benebelt auf einen Stuhl und warte mit dem confirmation letter in der Hand darauf, zum Interview aufgerufen zu werden. Ich habe Zeit genug, die bunten Bilder von draußen zu sortieren und meine Gedanken kreisen zu lassen. Dass London ein melting pot, ein Schmelztiegel der Kulturen ist, bedarf keiner Erklärung und gehört zum Allgemeinwissen, doch besteht ein Unterschied zwischen dem theoretischen Ansatz und dem Erleben in der Praxis. Da wir schon einmal bei dem Begriff Schmelztiegel sind: es handelt sich um ein Gefäß, in dem verschiedene Stoffe erhitzt und geschmolzen werden, sodass am Ende eine Mischung von allem, also etwas Einheitliches herauskommt. In der Soziologie wird dadurch der Prozess der Assimilation und der Integration von Einwanderern in die Kultur eines Landes, die Vermischung zu einer gemeinsamen nationalen Kultur beschrieben. Allerdings sehen die Menschen, an denen ich vorhin vorbeigegangen bin, nicht unbedingt danach aus, als hätten sie Interesse an dem Prozess, den solch ein melting pot mit sich bringt, eher habe ich den Eindruck, dass sie getrennte salad bowls vorziehen, in denen sie ihre eigene, von südasiatischen Einflüssen stark geprägte und klar abgegrenzte Kultur pflegen.

Ich schaue mich in der Wartehalle um, die voller Menschen ist und die alle – wie ich – auf diese Versicherungsnummer warten und überlege, was ich eigentlich über diese Stadt weiß. Erst von drei Wochen bin ich hierher gezogen und wusste schon vorher, dass die Stadt für den American Dream in Europa steht und darum Menschen aus aller Welt anzieht. Angeblich kann man auf den Straßen Londons 300 verschiedene Sprachen hören. Tatsache ist, dass ich bei jeder tube-Fahrt nur begrenzt Englisch, dafür aber viele andere Sprachen höre, die ich noch nicht einmal aufgrund der Melodie einordnen, höchstens an der Hautfarbe und der Form der Augen des Sprechers einem bestimmten Kontinent zuordnen könnte. Und genauso eng, wie man in der tube zusammengequetscht wird, genauso eng aufeinander lebt man in London, der bevölkerungsreichsten Metropole in Mitteleuropa. In dieser Vielvölker-Metropole, wo die Menschen sich fremd sind, bleiben die einzelnen Gruppen nun einmal gerne unter sich, statt sich zu integrieren. It makes sense: Das gibt ihnen nämlich ein Gefühl des Zusammenhalts, der Sicherheit, der Heimat. In London fährt man nur drei Stationen weiter und kommt schon in einem anderen Teil der Welt an: in China, in Afrika, im Mittleren Osten, in der Karibik oder eben in Südasien.

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Während ich meinen Gedanken nachhänge, höre ich alle paar Minuten, wie Namen aufgerufen werden; lauter Namen, die ich größtenteils zum ersten Mal höre; Namen mit vielen Konsonanten; Namen, bei deren Aufruf Personen aufstehen, sodass ich erkennen kann, ob sie für Frauen oder Männer bestimmt sind. Viele Namen, von denen ich nicht mit Bestimmtheit sagen könnte, ob sie in Russland oder im restlichen Osteuropa angesiedelt sind. Namen, die fremd klingen in meinen Ohren, die ich auch unter allergrößten Anstrengungen nicht transkripieren könnte, weil mir vermutlich die Buchstaben dazu unbekannt sind. All diese Menschen sind, wie ich, gerade in London angekommen und sorgen dafür, dass die Vielvölker-Metropole als solche erhalten bleibt oder sogar noch erweitert wird. Ohne Frage: Hier wollen sie sich eine neue Existenz aufbauen, denn sonst bräuchten sie diese Sozialnummer nicht. Eine Frauenstimme unterbricht meine tiefschürfenden Gedanken, ich höre einen typisch europäischen Namen, den ersten übrigens seit geraumer Zeit: Christina. Ich schaue mich um. Sonst scheint niemand im Wartesaal auf diesen Namen zu hören. Meine Wenigkeit muss wohl gemeint sein, also stehe ich auf und trotte zur Dame, die mich freudestrahlend und mit einem festen Händedruck an ihren Schreibtisch bittet. Welcome, Christina!

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Die Dame, die sich meiner annimmt, ist groß, auffallend schick und farbenfroh gekleidet, hat ihre Haare zu braids geflochten und redet mit tiefer Stimme auf mich ein. Sie könnte eine entfernte Verwandte von Naomi Campbell sein, zwar bei weitem nicht so attraktiv, aber eine gewisse Ähnlichkeit ist vorhanden, vor allem durch ihre sinnlichen, verführerischen Lippen und ihren betörenden Augenaufschlag – allerdings sind die dichten, langen Wimpern angeklebt, da gehe ich jede Wette ein. Aufgrund der entfernten Verwandtschaft mit dem berühmten Topmodel schließe ich messerscharf, dass die Vorfahren dieser attraktiven Dame aus Jamaika stammen und ich gerade die Bekanntschaft des Afro-Caribbean-Akzentes mache. Erst vor kurzem hatte ich gelesen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg eine große Migrationsbewegung aus der Karibik einsetzte, denn als Mitglieder des Commonwealth konnten sie ohne Beschränkungen einreisen und genossen die vollen englischen Staatsbürgerrechte. Da sie Englisch als Muttersprache sprachen und mit den Grundelementen der britischen Kultur vertraut waren, verfügten sie über günstige Voraussetzungen, um von der englischen Gesellschaft akzeptiert zu werden.

Naomis zarte Hände zeigen mir den Stuhl, auf dem ich Platz nehmen soll und nachdem ich ihr alle erforderlichen Dokumente überreiche, – als da wären Reisepass, Mietvertrag und die Bestätigung, die ich per Post erhalten habe – kann das Interview beginnen. Erfreut stelle ich fest, dass ich ihrem karibischen Englisch, einem herrlich sympathischen Singsang, problemlos folgen kann und Fragen wie Why have you come to the UK? Where were you staying before coming to the UK? Who else from your family is here in the UK? Could you please give me the reference letter from the employer? beantworten kann, ohne nennenswerte Schäden davontragen zu müssen. Als sie feststellt, dass ich Deutschlehrerin bin, setzt sie genau den gleichen Gesichtsausdruck auf, den viele Leute in Zukunft aufsetzen werden, wenn sie mir ein und dieselbe Frage stellen werden: So how come you are teaching German? Mir ist es schleierhaft, warum die Ausübung dieses Berufs weltweit so viele Rätsel aufgibt. Vermutlich hat es damit zu tun, dass es vor allem den Anglophonen unter den Fragestellern unerklärlich bleiben wird, dass man sich als Schüler aus freien Stücken solch einer Tortur unterzieht und versucht, diese misstönende Sprache der Krauts – wie die Deutschen gerne von den Amerikanern während des Zweiten Weltkrieges spaßeshalber genannt wurden – zu lernen. Ebenso mysteriös und unergründlich scheint die Existenz von Deutschlehrern zu sein, weshalb ich mich im Laufe der Jahre genötigt sehe, mit einer Erklärung für meinen beruflichen Werdegang aufzuwarten.

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Während Naomi und ich uns also bestens über mein privates und berufliches Leben austauschen – am Ende weiß sie alles über mich, ich aber nichts über sie – schreibt sie eifrig mit und füllt ein Formular mit all den Informationen, die ich ihr vermittle, aus. Als alle Felder ausgefüllt sind, darf ich mir das Ganze durchlesen und durch eine Unterschrift seine Richtigkeit bestätigen. Ich tue, wie mir geheißen: I verify all information and I sign the form. Fachmännisch kopiert sie alle meine Dokumente und flötet mir bei der Rückgabe derselbigen zu, dass ich innerhalb der nächsten vier Wochen ein Schreiben per Post bekommen und dann auch offiziell über diese so relevante Nummer verfügen werde. Bis dahin könne ich die provisorische Bestätigung benutzen und mit den Worten Please do not lose this letter, it is the acknowledgement of your application, überreicht sie mir den Umschlag. Mit einem Thank you so much and have a wonderful day erkläre ich mich mit dem Ergebnis des Interviews hoch befriedigt und verabschiede mich.

Auf dem Weg hinaus fällt mir ein Fernseher an der Wand auf, es laufen gerade BBC-Nachrichten und der Sprecher versucht in Kürze, die wichtigsten Tagesmeldungen zusammenzufassen. In hervorragendem Oxford Englisch. Ich schließe die Augen und übe mich im Hörverständnis, genieße dabei die Aufeinanderfolge von wohlklingenden Vokalen und Konsonanten, die richtigen Längen und Kürzen, das britische, nicht zu übertrieben gerollte „r“ nebst den dentalen «δ» und «θ». Eigentlich ist es das erste Mal heute, dass ich dieses wundervoll vertraute Englisch höre. Was sage ich? Wieso heute? Seit drei Wochen bin ich in London und ich kann mich nicht entsinnen, irgendwo BBC-Englisch gehört zu haben, weder in der tube noch im Supermarkt, geschweige denn auf der Straße, sondern eigentlich nur im Fernsehen und das nur in den Nachrichten. Schade um die Arbeit im Sprachlabor und um die ganzen Kassetten, Schade um die guten Noten im Leistungskurs, ganz umsonst habe ich mich in der Schulzeit als Mrs. Know it all unbeliebt gemacht, seufze ich, öffne die Tür und begebe mich wieder hinaus, nach Südasien.

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Während ich erneut an den indischen, pakistanischen und bengalischen Geschäften und Ständen vorbeimarschiere, die an Farbenpracht und quirliger Lebhaftigkeit nur schwer zu überbieten sind, nehme ich mir vor, die Nachbarschaft von Jack the Ripper doch lieber ein anderes Mal und vor allem mit Hilfe einer walking tour zu erkunden. Wie sonst soll ich das Milieu dieses Psychopathen inmitten von so viel Buntheit ausfindig machen, zumal es in meiner Vorstellung gruselig anmutet, da dunkel und spärlich beleuchtet.

Was mag wohl ein gutbürgerlicher, alt eingesessener Engländer der damaligen Zeit gefühlt haben? Ein Gentleman mit Zylinder, Frack, Spazierstock und polierten Schuhen, der sich – vermutlich mehr durch Zufall – in diese Gegend, in die so genannten Slums verirrte und es beim Anblick der russischen, irischen und jüdischen Armut auf den Straßen doch lieber vorzog, seinem gefederten Fuhrwerk nicht zu entsteigen und statt dessen dem Kutscher order zu geben: Keep on going! Was mag dieser gebürtige Brite wohl gedacht haben? Where have all the English people gone?

 

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Herzlichen Dank an Ute Petkakis für das Gegenlesen!

 

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