von Christina Antoniadou
In Südafrika gibt es einen Begriff, der gern verwendet wird: rainbow nation. In den fast drei Jahren meines Aufenthaltes in diesem wundervollen Land ist es mir allerdings unmöglich, in Erfahrung zu bringen, ob das Gefühl, das die Südafrikaner heutzutage bei diesem an sich wohlklingenden und positives Empfinden suggerierenden Begriff haben, wirklich den damaligen Vorstellungen der Visionäre Nelson Mandela und Desmond Tutu entspricht. Denn so wie die Farben des Regenbogens schön brav parallel und nebeneinander verlaufen, ohne sich zu vermischen oder irgendwo anzuecken, so leben die verschiedenen südafrikanischen ethnischen Gruppen ebenfalls meist nebeneinander und zwar in Parallelgesellschaften. Sicher gibt es auch diejenigen, die MITeinander leben, aber so wie ich persönlich Südafrika erlebt habe, handelt es sich eher um Ausnahmen. 1994 endete die Apartheid-Ära und mit ihr die Rassentrennung. Seitdem hat sich die ganze gesellschaftliche Struktur verschoben, die schwarze Mehrheit hat in der Politik das Ruder übernommen, sodass es nunmehr auch wohlhabende und gut situierte Schwarze gibt, denen sowohl Geld als auch Macht anzusehen ist.
Wenn also in Südafrika von der Regenbogennation die Rede ist, denkt jeder erst einmal an ein zusammengewürfeltes Volk aus Schwarz und Weiß. Alles, was früher aus den Zeiten der Apartheid nach Europa durchsickerte, war die Unterdrückung der Schwarzen durch die Weißen, also glauben viele immer noch, dass es zwei Gruppen gibt. Aber die südafrikanische rainbow nation ist weitaus mehr als ein Schachbrett, auf dem zwei Farben etwas ungleich zusammengesetzt sind.
https://en.wikipedia.org/wiki
Tatsächlich geht es in dieser Villa Kunterbunt nämlich recht vielfarbig zu. Will man beispielsweise den Stammbaum eines Weißen untersuchen, muss man feststellen, dass es Nachfahren von Franzosen, Deutschen und Holländern sind, die sich allesamt Buren nennen, größtenteils Protestanten sind und behaupten, sich hier als erste Europäer niedergelassen zu haben. Manchmal hört man auch, dass einige Vorfahren aus den skandinavischen oder baltischen Ländern ausgewandert sind. Sie nennen sich samt und sonders „Afrikaaner“ oder im Englischen „Afrikaners“, was ihre tiefe Verwurzelung in Afrika zum Ausdruck bringt, denn immerhin leben sie schon seit vier Jahrhunderten hier und haben den Bezug zu Europa verloren. Dies gilt übrigens weniger für die Briten, die erst später einwanderten, und heute noch oft genug über einen zweiten, nämlich den britischen Pass verfügen. Wiederum etwas später folgten Südeuropäer, die peu à peu ins Land kamen: Italiener, Portugiesen und Griechen, die heute noch größtenteils ihre Muttersprache sprechen und ein besonders enges Verhältnis zu ihrer früheren Heimat hegen.
Wer nun nach diesen Ausführungen dem Glauben verfallen ist, dass in Südafrika nur die Weißen auf so eine gemischte Abstammung zurückblicken können, der irrt gewaltig und sollte schnurstracks zum ATM gehen – ein Begriff, der jedem auf der Welt geläufig sein dürfte außer den Deutschen, die statt der einfachen drei Buchstaben lieber die Begriffe Geldautomat, Geldausgabeautomat (GAA), Bankautomat oder Bankomat benutzen. Kurzum, an diesem Automaten sollte jeder Tourist den Versuch unternehmen, Geld abzuheben. Und spätestens dann wird einem klar, warum in Südafrika von der Regenbogennation die Rede ist, was man salopp mit „multikulti“ übersetzen könnte. Das Erste, worum er an Ort und Stelle gebeten wird, ist please choose your language. Statt zwei werden gleich acht Sprachen angegeben.
Jeder übermüdete Reisende, der zum ersten Mal nach Südafrika kommt und nicht vorgewarnt ist, schaut am Flughafen von Johannesburg sicherlich nicht weniger irritiert als meine Wenigkeit auf diesen Bildschirm. Es ist sehr früh am Morgen. Wir kommen jeder mit zwei großen schweren und zwei kleinen schweren Koffern aus London am Flughafen O.R. Tambo an, haben eine lange Nacht im Flieger hinter uns, danach zwei Stunden Schlange stehen zwecks Passkontrolle und Immigration-Kontrolle. Der Stress kurz vor dem Abflug und durch den Umzug war so groß, dass keiner von uns beiden daran gedacht hat, in London Geld umzutauschen. Kein Problem, schließlich gibt es ja an jedem Flughafen der Welt diese Geldautomaten. Also begeben wir uns zum erstbesten. Einer in feuerroter Farbe. Ich stecke die Karte in den Schlitz und tippe das ein, was man üblicherweise an einem ATM eingibt.
Auf dem Bildschirm stehen folgende Sprachen zur Auswahl: Ganz oben links die Sprache Afrikaans, von der eben nicht jeder weiß, dass es die Sprache der Buren ist – Sie erinnern sich? – und große Ähnlichkeit mit dem Holländischen aufweist. Oder zumindest früher einmal aufgewiesen hat, denn es sind sowohl französische Elemente als auch asiatische und afrikanische hinzugekommen, die die Sprache angereichert und für einen Niederländer eventuell bis zur Unkenntlichkeit entstellt haben. Generell kursiert in Südafrika die Ansicht, dass die Südafrikaner Holländisch verstehen, die Niederländer allerdings kein Afrikaans.
Zurück zum Monitor: Direkt unter Afrikaans ist die einzige Sprache zu finden, die keiner Erklärung bedarf: English. Während ich die Liste aus purer Neugier mit dem Zeigefinger weiter verfolge, wird es immer spannender, allein schon weil ich den Versuch unternehme, all diese exotischen Namen auszusprechen: Als da wären nämlich die Sprachen Sesotho sa Lebowa, Xitsonga, Sesotho, isiXhosa, isiZulu, Tshivenda. Aha! Meine rechte Augenbraue hüpft überfordert in die Höhe und ich schaue meiner besseren Hälfte tief in die übermüdeten Augen. Was gibt es da groß zu überlegen? fragt er mich. Wo er Recht hat, hat er Recht! Unter Aufbietung aller meiner nach zwölf Flugstunden verbliebenen Kräfte berührt mein rechter Zeigefinger das einzige Feld, das für uns in Frage kommt.
https://www.ken-hensley.com/tour-diaries/sa-mar-12.html
Der Bankautomat spuckt unsere ersten Rand aus. Ich halte das südafrikanische Geldbündel in der Hand, begeistert davon, dass die Big Five der hiesigen Tierwelt auf den Geldscheinen platziert sind. Jedes der fünf Tiere bekommt seinen eigenen Schein, das nenne ich gerechte Aufteilung. Unabhängig von Farbe oder Wert schaut mir auf der Vorderseite eines jeden Scheines ein sympathischer und wohlwollender Nelson Mandela entgegen. Ich bin ganz angetan von alldem und versuche, auch meinen Mann dafür zu begeistern, aber er ist zu sehr damit beschäftigt, den richtigen Ausgang zu finden und weiß anscheinend, dass wir in Zukunft viel öfter die Debitkarte zücken werden als die Scheine mit dem lächelnden Nelson Mandela drauf.
https://saspecialist.southafrica.net
Später erfahre ich dann ganz nebenbei, dass es in Südafrika nicht eine Amtssprache gibt, sondern dass es derer elf sind, also Afrikaans, Englisch und 9 afrikanische Sprachen, die den entsprechenden hiesigen Ethnien zuzuordnen sind. Man muss sich einmal vor Augen führen, was elf Amtssprachen für einen enormen Aufwand an Übersetzung erfordern, fast mit dem in der EU vergleichbar. Eigentlich bin ich schon von der Anzahl der ATM-Sprachen überwältigt, aber als ich erfahre, dass es sich dabei nur um eine geringe Auswahl an Bantusprachen handelt, bin ich zutiefst beeindruckt. In Südafrika sind nämlich weitaus mehr Stämme heimisch: Zulu, Xhosa, Sotho, Pedi, Tswana, Venda, Tsonga, Pondo, Swazi und Ndebele. Die Sprache der größten Gruppe, der Zulu, heißt isiZulu, gefolgt von der Sprache der Xhosa, isiXhosa und das geht dann immer weiter, bis man bei der Sprache isiNdebele landet, die von einer der kleinsten afrikanischen Gruppe gesprochen wird.
https://www.youtube.com/watch?v=KZlp
Es wird wohl niemanden verwundern, dass alle hiesigen Sprachen in meinen Ohren gleich fremd klingen. Seitdem ich aber herausgefunden habe, dass sich die Xhosa – sprich (Schnalzlaut)Kossa – ihrer Schnalzlaute bedienen, und zwar gleich dreier verschiedener, kann ich wenigstens diese Sprache unterscheiden, weil vor und innerhalb von vielen Wörtern geschnalzt wird, als wolle man Pferde dressieren. Die zwei bekanntesten Repräsentanten Südafrikas auch über die Grenzen hinaus sind übrigens Xhosa: Die zwei Nobelpreisträger Nelson Mandela und Desmond Tutu.
https://www.bt.dk
Trotz der vielen Ethnien und Sprachen klappt die Verständigung recht gut, habe ich mir sagen lassen, was insofern keine große Überraschung darstellt, wenn man die sprachliche Verwandtschaft auch auf unser Europa überträgt. Die skandinavischen Sprachen sind so verschieden nicht, die romanischen und slawischen Sprachen weisen ebenfalls große Ähnlichkeiten untereinander auf, nur die Griechen sitzen wieder einmal allein in ihrem Bötchen, sodass sie sich von niemanden verstanden fühlen. Als Entschädigung dafür haben sich allerdings viele der Europäer eine nicht zu unterschätzende Anzahl von Begriffen aus dem Griechischen geliehen. Dankenswerterweise werden diese im Duden durchweg als gehobener Wortschatz klassifiziert.
https://einekleinedeutschkiste.blogspot.com/2012/04/griechische-worter-in-der-deutschen.html
Wie schon erwähnt, scheint die Verständigung unter der schwarzen Bevölkerung Südafrikas kein Problem zu sein, trotzdem kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die elf offiziellen Ethnien hierzulande zwar problemlos verständigen können, sie sich aber nicht immer sonderlich gut verstehen. Immer wieder höre ich von Zulu, dass sie den Xhosa gegenüber Vorbehalte haben und umgekehrt. Das Gleiche gilt ebenfalls oder erst recht für die Ethnien außerhalb der Grenzen Südafrikas. Wenn man schwarze Südafrikaner nach den Bewohnern der Nachbarländer befragt, kommt meist skeptisches Kratzen am Kopf oder ratloses Achselzucken als Antwort, aber mit einer Intensität, als wolle man die Ohren mit den Schultern bis zum Scheitel hinaufschieben. Kein Lächeln, kein begeistertes Kopfnicken, nichts dergleichen ist mir aufgefallen. Generell scheint man ausgerechnet die Nachbarn am wenigsten zu mögen. Millionen Menschen aus Zimbabwe und aus Mozambique halten sich nämlich in Südafrika auf, wofür es politische und wirtschaftliche Gründe in ihrer Heimat gibt. Wenn man übrigens den Spieß umdreht, sieht es nicht besser aus, denn Leute aus Zimbabwe bringen Zulu und Xhosa ebenfalls ein gewisses Misstrauen entgegen.
Ganz ernst wird das Gespräch, wenn man den Kongo oder Nigeria erwähnt. Dann äußern sich die Südafrikaner direkter und ohne Vorbehalte und vermutlich auch nicht ganz vorurteilsfrei: Das sind angeblich die Hauptverantwortlichen für den Anstieg der Kriminalität hierzulande, und bei diesen Worten nickt man sichtlich überzeugt und schickt noch ein I promise you hinterher, um das Argument zu untermauern, dass diese Gruppe für jegliche kriminelle Handlung, angefangen bei Taschendiebstahl bis hin zu Drogenhandel und Messerstecherei, haftbar gemacht werden muss. Dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass die Kriminalität in diesem Land schon vor Mandelas Machtübernahme 1994 einen hohen Stand erreicht hatte und nicht auf die Hilfe von auswärts angewiesen war.
Dieser Mangel an Sympathie ist vermutlich dem Umstand zu verdanken, dass Millionen von Migranten aus diesen Ländern in das reichere und auch politisch stabilere Südafrika strömen und somit den Einheimischen Arbeitsplätze wegnehmen. Meine Annahme wird öfters von weißen Südafrikanern bestätigt, die nicht etwa ihre eigenen schwarzen Landsleute als Arbeitnehmer, sondern lieber die aus Zimbabwe und Malawi vorziehen. Die Begründung dafür ist stets die gleiche: Den schwarzen Südafrikanern ist eine Menge von ihren Politikern versprochen worden. Sie haben sich zurückgelehnt und warten immer noch darauf, dass ihnen die Dinge in den Schoß fallen. Die Leute aus den Nachbarländern dagegen bekommen nichts geschenkt und wissen, was Arbeit heißt.
Nach diesen Ausführungen glauben die meisten Leser nun eventuell, dass das Bevölkerungsgemisch hierzulande nicht über die Farben Schwarz und Weiß hinausgeht. Weit gefehlt! Der südafrikanische Tuschkasten verfügt über weit mehr Schattierungen, was auch schon die Flagge signalisiert, die mit sechs verschiedenen Farben die ethnische Vielfalt und das Heterogene des Landes hervorhebt.
Um die Palette der Farbenvielfalt abzurunden, seien an dieser Stelle Inder, Malaysier und Indonesier erwähnt, die hierzulande ebenso heimisch sind – ganz zu schweigen von den Millionen Mischlingen, die nach Darwins Erkenntnissen bei so einer farbigen Verbindung zustande kommen! Man sollte das einmal überschlagen – wenn man denn ein Mathematikgenie wäre und es könnte – welche Vermischungsmöglichkeiten sich unter diesen multikulturellen Regenbogenbedingungen auftun. Wahrlich die reinste Rechenaufgabe, der nur Experten gewachsen sind. Diese Mischlinge werden übrigens mit der landesüblichen Bezeichnung coloureds versehen. Nicht zu verwechseln mit dem bundesweit üblichen Begriff „Farbiger“! In Südafrika ist ein Schwarzer black, ein Weißer white und alle anderen, die farblich dazwischen liegen sind coloureds, und das ist nicht nur politically correct, sondern die Begriffe Black, White, Coloured und Indian werden sogar offiziell zur Identifizierung der Personen benutzt.
https://hubpages.com
Diejenigen Touristen also, die aus der betont toleranten deutschen Welt einfliegen, sollten nicht glauben, dass sie einem Schwarzafrikaner einen Gefallen tun, wenn sie ihn coloured nennen! Und noch etwas: Es wäre durchaus vorstellbar, dass die coloureds des ewigen Tauziehens zwischen Weiß und Schwarz überdrüssig sind. Während der Apartheid-Zeit waren sie nämlich too black to be white und seit Mandelas Partei ANC regiert, sind sie too white to be black. Immer sitzen sie zwischen zwei Stühlen.
Falls der werte Leser nun annehmen sollte, die Weißen seien so ganz ohne Ressentiments untereinander, sei gesagt, dass er erneut einem gewaltigen Irrtum unterliegt. Ein kurzer Blick in die Geschichte Südafrikas genügt, um zu erkennen, dass sich durch die zwei gar nicht so lange zurückliegenden Burenkriege ein tiefer Graben gebildet hat, der die Beziehungen zwischen Engländern und Buren auch heute noch anhaltend beeinflusst.
Inwieweit sich das Verhältnis zwischen Weißen und Weißen, Schwarzen und Schwarzen, Weißen und Schwarzen im Rahmen der relativ jungen rainbow nation verbessert hat und inwiefern die Schwarzen und coloureds die Apartheid-Zeit infolge von Mandelas Beschwörungen und eindringlichen Bitten um reconciliation, also Versöhnung, sowohl vergessen als auch verzeihen können, sei dahin gestellt. Oft entsteht nämlich der Eindruck, dass Südafrikas Rassenpolitik 1994 zwar das Parlament, nie aber den Alltag der Menschen verlassen hat. Mandelas rainbow nation, die in den Medien stets gepriesen wird, bleibt vorerst eine Vision dieses großartigen Mannes, der auch liebevoll Madiba genannt wird. Besonders nach seinem Tode weist sie nämlich im Alltag eine eher bröckelnde Fassade vor. Leider.
https://www.slideshare.net/Quotery
Herzlichen Dank an Ute Petkakis für das Gegenlesen!
Copyright 2018 Christina Antoniadou / All rights reserved
Beitragsbild:https://webneel.com/beautiful-rainbow-photography
Was für ein interessanter Blick in den von hier aus (Deutschland) kaum beachteten afrikanischen Alltag und insbesondere die Sprache!
Noch ein Stück zum Puzzle Südafrika, spannend dargestellt, so dass es auch bei
(aus welchem Grund auch immer) vergesslichen Leuten haften bleibt. Sehr interessante Informationen, wirklich, auch schwer, in dieser Weise woanders zu finden.
So macht Bildung Spaß:
Mir gefallen die vielfältigen Informationen aus den verschiedensten Bereichen, die sich alle um das umfangreiche Thema „Multikulti“ in Südafrika drehen. Toll zusammengetragen und miteinander verwoben! Das Lesen macht Spaß: es ist unterhaltsam und informativ!
Interessante Informationen, verwoben mit Kulturgeschichte, politischem Blickwinkel und Alltagsproblemen. Wer die Geschichten über Südafrika aufmerksam liest, kann am Ende zum SA-Experten werden!
Wirklich sehr informativ und schön erklärt. Manche Lücken wurden mit dieser Geschichte gefüllt. Ich weiß jetzt mehr über Südafrika und es hat mir Spaß gemacht, das alles zu erfahren. Ich freue mich auf die nächste Geschichte.
Das war spannend und super interessant! Habe viel dazugelernt, mich mit fremden neuen Lauten versucht und festgestellt, dass es offensichtlich überall auf der Welt ähnliche Vorbehalte den Menschen jenseits der Ländergrenze gibt. Liegt das in der menschlichen Natur? Wäre ja schade.