von Christina Antoniadou
Mit dem Wagen des Freundes meiner Tochter fahren wir zu dritt – alles Frauen wohlgemerkt! – von Pittsburgh los und wollen ein paar Tage in Toronto verbringen. Allein schon die Reise von Pittsburgh nach Toronto mit dem Wagen des Freundes meiner Tochter ist ein Erlebnis und das nicht nur wegen der Niagara-Fälle, an denen wir anhalten und die gebührende Anzahl von Fotos machen.
Man kennt das. Anfangs lässt man sich allein vor dem tobenden Wasser ablichten, dann zu zweit, dann wieder zu zweit, aber diesmal in einer anderen Konstellation. Dann reicht man die Kamera einem nichts ahnenden Touristen, den man aufgrund seiner mitgeführten und vor dem Bierbauch baumelnden Nikon zum Fotografieren für fähig befindet, fragt ihn mit dem allerfreundlichsten Lächeln, das man zustande bekommt: Sorry, would you mind? und zeigt vielsagend auf die Kamera. Er hat die Aufgabe, uns zu dritt zu verewigen und gemeinsam nehmen wir eine vorher einstudierte Urlaubspose ein, von der wir glauben, dass sie besonders natürlich und spontan wirkt. Es ist die Zeit, in der nicht jeder über ein Handy verfügt und Selfies noch nicht als solche identifiziert werden. Auch die Idee der selbstironisch Schnuten ziehenden Duckfacerinnen ist noch nicht geboren.
Unser Fotoshooting wird kurz von applaudierenden Menschen um uns herum unterbrochen. Wir merken recht bald, dass der Begeisterungssturm keinesfalls uns, sondern dem Boot Maid of the Mist gilt, das gerade den Versuch unternimmt, sich im aufgewühlten Nass unter uns fortzubewegen. Es ist voll beladen mit Touristen, die samt und sonders in Plastikanoraks gehüllt sind und wagemutig auf den Wasserfall zusteuern, um das echte Lebensgefühl mittels ultimativen Adrenalinkicks zu genießen.
Wie gesagt, die Fahrt nach Toronto ist ein Erlebnis. Wir bekommen zwar den Wagen des Freundes der Tochter, aber mit den Autoschlüsseln zusammen auch gleich den Hinweis, dass der eine Reifen eigentlich defekt sei, diese Reise jedoch bestimmt noch überstehen und erst danach seinen Geist aufgeben werde. Kein Grund zur Sorge also. Denkt er. Es ist zu spät, um noch umzudisponieren und nach Tickets jeglicher Art zu suchen. Also fahren wir mit drei intakten Reifen los und hoffen, dass sich der vierte mit seinem Ableben noch etwas Zeit lässt. Da ich als Mutter mit Abstand die älteste im Wagen bin, versuche ich so gut es geht heile Welt vorzugaukeln und mir während der Fahrt nichts anmerken zu lassen, aber in Wirklichkeit rechne ich jeden Moment damit, dass wir am Straßenrand anhalten und per Autostopp oder auch gar nicht weiterkommen. Glücklich in Toronto angekommen, tanken wir erst einmal und ganz beiläufig frage ich den Herrn Tankwart, ob er einen Blick auf den Reifen werfen könne und ob dieser seiner Meinung nach fahrtüchtig sei. Sure! Ein Mann, ein Wort, ein Blick! The tyre will explode any minute! Ich schaue ihn etwas verunsichert an und hake noch einmal nach, wie er das denn konkret meine. Konkreter kann er es nicht ausdrücken, aber mir dafür etwas umständlich beschreiben, wo die nächste Werkstatt ist, nämlich in Chinatown. Eigentlich hatte ich den Besuch des erwähnten Stadtteils etwas anders und vor allem für etwas später geplant, aber unter den gegebenen Umständen ist eine klare Entscheidung, wie sie der Mutter ansteht, dringend geboten. Wir finden die Werkstatt zwar nicht auf Anhieb, was zugegebenermaßen etwas realitätsfern wäre, doch ist der Wagen samt dem bald explodierenden Reifen nun in guten chinesischen Händen und wir haben ausreichend Zeit, mit Fotoapparat ausgerüstet zur üblichen Sightseeingtour aufzubrechen.
Bunt ist es in Chinatown, vor allem rot, gelb und grün! Das gibt schöne bunte Fotos, vor allem rot-gelb-grüne. Wir gehen nach dem bewährten Schema vor: Mal steht man allein vor der Linse, mal zu zweit und wenn man auf der Straße jemanden trifft, der einen Fotografen abgeben könnte, auch zu dritt.
Beim Schlendern und Flanieren durch die Straßen und durch die Geschäfte entdecken wir einen Teeladen, in dem Hunderte von Teesorten angeboten werden. Richtig gemütlich ist es hier, wir bekommen Tee in diesen winzigen Tassen angeboten und vergessen dabei alles, was mit explodierenden Reifen zu tun haben könnte. Am Ende würde ich gern etwas kaufen, aber nachdem ich zehn verschiedene Sorten auf eine recht unstrukturierte Art probiert habe, weiß ich nicht, für welche ich mich entscheiden soll.
https://www.seriouseats.com/2015/02/best-tea-where-to-buy.html [Photographs: Vicky Wasik]
Die Verkäuferin realisiert meine Unentschlossenheit und setzt zu einer Hilfsaktion an, die anfänglich darin besteht, nicht von meiner Seite zu weichen. Mit bewundernswertem Ehrgeiz versucht sie mir etwas mitzuteilen, was ihr aber nicht im Mindesten gelingt, weil ich es nicht im Mindesten verstehe. Wer schon einmal Chinesen hat sprechen hören, wird mir zustimmen, dass sie eine feine, zarte, aber doch etwas schrille Stimme haben, wahrscheinlich rührt die hohe Stimmlage von ihrer Sprache her oder auch umgekehrt. Wie dem auch sei, sie steht neben mir und piepst mir immer wieder die gleichen Silben ins Ohr, sodass sich bald alle meine Körperhaare aufrecht stellen: „tutie tlitie“. Die Kenntnis des Terrains kommt ihr sehr zustatten, ich dagegen kann beim besten Willen keinen Notausgang im Geschäft entdecken, um das Weite zu suchen und um mein Trommelfell zu retten. Als ich es beim x-ten Male immer noch nicht begriffen habe, dafür aber schon Tinnitus diagnostiziert werden kann, legt sie eine Pause dazwischen ein: „tutie“ Pause „tlitie“. Was um Himmels Willen möchte mir die gute Frau mitteilen? Ich kann den Sinn dieser Silben beim besten Willen nicht erfassen. Beharrlich legt sie noch mehr Pausen ein: „tu“ Pause „tie“ längere Pause „tli“ Pause „tie“ Ende. Immer noch ist die Kommunikation gestört, mein Gehör jedoch irreparabel beschädigt. Jetzt versucht sie es non-verbal, indem sie ein paar Päckchen Tee in die Hand nimmt und damit vor meiner Nase jongliert.
https://www.followmefoodie.com/2011/01/chinese-tea-101/
Eigentlich bin ich ja recht stolz darauf, dass ich eine hochentwickelte Persönlichkeit von scharf ausgeprägter Intelligenz bin, und dass ich im Normalfall – das hier in Torontos Chinatown ist eine absolute Ausnahme, bitte schön! – über eine schnelle Aufnahmegabe verfüge, aber in diesem Fall macht sich auf meinem Gesicht ein permanenter Ausdruck der Ratlosigkeit breit. Schließlich legt sie mir zwei Schachteln in die Hand und fuchtelt mit einer dritten Schachtel immer hin und her und so langsam dämmert es mir auch ohne jegliche Akustik. Derjenige, der die ganze Zeit auf meiner Leitung stand, hat sich anscheinend verzogen und mir fällt siedend heiß ein, was jeder weiß, dass nämlich Chinesen Schwierigkeiten damit haben, das „r“ auszusprechen und der Einfachheit halber daraus ein „l“ machen. Und nun wird mir auch ihr Angebot klar, denn Chinesen sind gute Händler: Wenn ich zwei Schachteln Tee kaufe, bekomme ich die dritte gratis, also two tea – three tea!
Herzlichen Dank an Ute Petkakis für das Gegenlesen!
Copyright 2018 Christina Antoniadou / All rights reserved
Wie immer: köstlich
Eine irritierende, aber doch süße Geschichte. Wie wär’s mit einem Chinesisch-Crash-Kurs?
Hahaha! Herrlich kann ich nur sagen. Ich muss immer noch schmunzeln. Super lustig erzählt. Bravo dir und deinem Sinn für Humor.
Ach, Christina, das war eine köstliche Geschichte. Ich kann gut deine Ratlosigkeit verstehen. Als Deutschlehrerin an der Uni in Oklahoma habe ich vergebens versucht, drei Studenten aus China den Unterschied zwischen ‚r‘ und ‚l‘ beizubringen. Aber sie haben darauf bestanden, Wassel zu tlinken und schnell zu fahlen.
Ich habe so gelacht! Wunderschöne Geschichte!
Sehr interessant, aber erfahren wir denn nicht, wie es mit dem Reifen weitergeht? Schade!!!!