von Christina Antoniadou
Bhutan ist ohne Zweifel ein Land mit starken religiösen Merkmalen und wird von den Traditionen des tibetischen Buddhismus geprägt. Doch gibt es auch jede Menge alltägliche Besonderheiten, die uns auffallen. So wird beispielsweise in der Hauptstadt Thimphu der Verkehr nicht von einer Ampel geregelt; stattdessen steht immer noch ein Verkehrspolizist in einem Häuschen mitten auf der Kreuzung und regelt den Verkehr mit Handzeichen, fast könnte man sagen, er betätigt sich sportlich, so dynamisch schwingt er seine Arme in alle Richtungen.
Apropos Sport. Außergewöhnlich ist sicherlich auch der Nationalsport, der ausnahmsweise einmal nicht Fußball ist. Es handelt sich um keinen minderen als das Bogenschießen. Dabei nimmt man nicht einfach nur einen Bogen in die Hand und zielt auf eine Scheibe! Weit gefehlt! Zwei Männergruppen – meist Repräsentanten zweier Dörfer – stehen sich auf einem 140 m langen Feld gegenüber und beschießen auf diese Entfernung eifrig ein Holzbrett mit einem „bullseye“.
Sobald sie sozusagen ins Schwarze treffen, legen sie einen ausgelassenen Freudentanz samt Gesang hin, und greifen erst dann zum nächsten Pfeil.
An den Umstand, dass die Männer nicht nur beim Bogenschießen eine Tracht – ihr Nationalgewand – tragen, sondern auch zu jeder anderen Gelegenheit, gewöhnen wir uns schnell, auch wenn uns das Tragen eines solchen Gewandes eher unzweckmäßig erscheint. Wir überlegen trotzdem, ob wir aus gegebenem Anlass unserem einzigen Mann in der Reisegruppe nicht auch so einen knielangen Mantel samt den dazugehörigen schwarzen Kniestrümpfen nahelegen sollen, damit wir dem Bild der Königsfamilie gerecht werden. Der Ausdruck „Mantel“ trifft das Wickelgewand mit den blütenweißen Ärmelstulpen namens Gho nur entfernt, denn uns Europäer erinnert es eigentlich mehr an einen Morgenmantel, und zwar nicht nur aufgrund seines karierten oder gestreiften Stoffes, sondern auch wegen des Gürtels, der locker um die Hüften gebunden wird und somit viel Raum für Spekulationen lässt.
Statt des weniger spektakulären Mantels kaufen wir uns am Ende traditionelle kniehohe Stiefel, bekannt als Tshoglam, die Männer zu feierlichen Anlässen tragen, regelrechte Kunstwerke aus Seide, Leder und Brokat mit fantasievollen Stickmustern. Eigenartigerweise wird nicht zwischen rechtem und linkem Schuh unterschieden. Die Farbe des Schaftes bestimmt den Rang des Besitzers oder umgekehrt. Soziale Unterscheidung erfolgt also für den König, die Minister, die Staatsbediensteten und für das gemeine Fußvolk. Den Frauen stehen dagegen kurze, knöchelhohe Stiefel zu, während sie sich in fersenlange Kleider, die sogenannten Kira, hüllen. Sonam lässt uns wissen, dass der Monarch das Tragen der traditionellen Tracht angewiesen hatte, um die Bhutaner von der nepalesisch-stämmigen Hindu-Minderheit abzugrenzen. Auf unsere Frage, warum diese Abgrenzung denn so wichtig sei, schaut uns Sonam erneut nur verständnislos an. Uns beschleicht allmählich das Gefühl, dass wir auf unsere falschen Fragen keine Antworten erwarten dürfen.
Unsere Freude ist grenzenlos, als Sonam uns ausdrücklich zu verstehen gibt, dass Bhutan ein nikotinfreies Land ist. Rauchen in der Öffentlichkeit und der Verkauf von Tabakwaren sind untersagt. Erlaubt ist das Rauchen nur in den eigenen vier Wänden, doch müsste man in diesem Fall die Tabakwaren aus dem Ausland beziehen, was den Preis durch die Einfuhrsteuer verdoppelt. Unser europäischer König und wir, seine mutmaßlichen Frauen, sind allesamt Nichtraucher und freuen uns außerordentlich, dass sich besagtes Laster nicht in diesem asiatischen Land ausgebreitet hat. Da wir allerdings aus einem Land kommen, dessen Bürger fast ausnahmslos dieser gesundheitsschädlichen Leidenschaft frönen und keine Gelegenheit auslassen, dies in Anwesenheit von nichts ahnenden Opfern zu praktizieren, wissen wir solch ein Verbot besonders zu schätzen und genießen den nikotinfreien Urlaub. Umso größer ist unsere Überraschung, als wir feststellen, dass an vielen Stellen, manchmal auch direkt am Wegesrand, Hanf in ungewöhnlichen Mengen wuchert …
Schutzmänner, Bogenschießen, Morgenmäntel, farbenfrohe Seidenstiefel und Rauchverbot sind aber bei weitem nicht so beeindruckend wie die bhutanischen Häuser. Vor allem auf dem Land, wo die Mehrheit der Menschen in einfachen Verhältnissen lebt, sind sie allesamt liebevoll und im traditionellen Stil gebaut. Die Bewohner müssen in ihren Häusern den harten Winter überstehen, darum wird ein großer Trockenspeicher unter dem Dach angelegt. Und da alle Gerichte großzügig mit Chili gewürzt werden, – eine bhutanische Angewohnheit, die wir nicht rechtzeitig, dafür aber mit tränenden Augen in Erfahrung bringen, – liegen die roten, feurigen Chilischoten zum Trocknen auf den Dächern.
Das Imponierendste an den Häusern ist allerdings, dass sie mit Schnitzereien reich verziert und mit Symbolen bunt bemalt sind, fast möchte man meinen, dass es recht verschwenderisch dabei zugeht. Eine große Auswahl an phantasievollen Darstellungen bringt Abwechslung in die Gestaltung der Außenwände und trägt dazu bei, dass kein Haus dem anderen gleicht. Die Palette reicht von Tigern und Drachen über das buddhistische Lebensrad bis hin zu Schlangen, Blumen und Früchten als Verzierungen. Und dann wären da noch Häuserwände, die etwas ganz Besonderes zu bieten haben.
Anfangs tue ich noch so unbeeindruckt wie möglich, wohl auch im irrigen Glauben, mich versehen zu haben, denn Derartiges erwartet man nun wirklich nicht, und schon gar nicht in der Provinz Bhutans, die vor Tradition und Überlieferung kaum Raum für Modernisierung lässt. Auch beim zweiten Hinsehen bedarf es einiger Zeit, ehe ich die Situation erfasse. Mein Blick bleibt an dieser Hauswand heften, bis ich neben mir die Stimme meiner Busenfreundin vernehme, der es ähnlich zu gehen scheint: Siehst du das, was ich sehe? Instinktiv drehen wir den Kopf zueinander und fangen wie auf Kommando an, schallend zu lachen. Diese Art von Verzierung, Dekoration, Schmuck oder wie auch immer man das nennen will, ist schon an Eigenart oder Originalität schwer zu überbieten: Ein überdimensionaler Penis in ausgefahrenem Zustand schaut nach oben und bespritzt munter den oberen Teil der Hauswand. Die zwei behaarten Kugeln am unteren Ende sind originalgetreu und ebenso in XXL-Format gezeichnet. Um den Phallus herum winden sich Schleifen und Bänder, die glücklich im Takt der Ejakulation tanzen oder mitschwingen.
Der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schießt, ist, dass der Besitzer des Gebäudes ein Single sein muss, der seine Kalibergröße, mit der die Natur ihn sehr großzügig ausgestattet zu haben scheint, an Ort und Stelle zur Schau stellt, um die Aufmerksamkeit der unverheirateten Frauen im nahen Umfeld auf sich zu ziehen. Schlagartig werden mir die Vorzüge der Singlebörse bewusst, in dessen Rahmen mit weitaus unauffälligeren Mitteln Bekanntschaften gemacht werden können, ohne gleich die ganze Nachbarschaft daran teilhaben zu lassen. Als meine Busenfreundin mich aber am Ärmel packt und mir diskret etwas zuraunt, statt indiskret mit dem ausgestreckten Zeigefinger darauf zu deuten, kommen mir Zweifel bezüglich meiner These auf. Entweder findet in diesem Land das dating nicht online statt oder die Männer in diesem Ort sind gut bestückt und können nicht länger an sich halten. Auch an der Außenwand des Nachbarhauses und an vielen anderen Häusern sind nämlich ebensolche Phallusobjekte zu bewundern, die allesamt keinerlei Erektionsstörungen aufweisen und stramm nach oben oder schräg zur Seite zeigen und dabei hyperaktiv den feuchten Inhalt an der Wand entleeren. Bei einigen Kunstwerken greift sogar eine Hand nach dem männlichen Geschlechtsteil, sodass wir anfangs zwar peinlich berührt kichern, uns dann aber nach der Sichtung einer zweistelligen Anzahl von Geschlechtsteilen so sehr an diesen Anblick gewöhnen, dass wir uns weniger prüde davorstellen und uns samt Phallusobjekt fotografieren lassen. Und soweit sind wir mittlerweile, dass wir nicht davor zurückschrecken, unsere Hand keck auf das an der Wand abgebildete Geschlechtsteil zu legen. Eine Gelegenheit wie diese wird sich in dem nächsten halben Jahrhundert sicher nicht noch einmal ergeben. Das männliche Wunderhorn überragt uns übrigens alle und damit jeder eine Vorstellung von der Größenordnung hat, sei am Rande erwähnt, dass wir von eher hohem Wuchs, also nicht kleiner als 1,75 m sind.
Bei unserer nächsten Reise nach Brüssel sollten wir vielleicht dem Manneken Pis schöne Grüße aus Bhutan ausrichten. Und assoziativ kommen mir die verschiedenen Werbeplakate an den Joburger Ampeln in den Sinn, die in Gegenden mit besonders hohem schwarzen Bevölkerungsanteil zu finden sind und auf denen großspurig verkündet wird, dass des Mannes bestes Stück operativ verlängert werden kann, und zwar um Einiges. Penis Enlargement nennt sich das und für diejenigen, die es ausprobieren wollen, steht die Handynummer groß und gut leserlich dabei.
Nach dem Fotoshooting namens Ein Mann und vier Frauen vor einem erigierenden Riesenpenis klärt Sonam uns unbedarfte und unwissende Europäer darüber auf, dass die teilweise purpurrot angelaufenen Phalli dazu dienen, die Menschen in Bhutan vor bösen Geistern und vor dem bösen Blick zu schützen. Auf unsere Frage, wer uns diese Interpretation zu Hause abnehmen soll, fügt der Guide unbeirrt hinzu, dass es gleichzeitig für den Besitzer des Hauses Glück im Leben signalisiert, womit sowohl Materielles als auch Ideelles gemeint ist. Eigenartigerweise haben wir in der Hauptstadt nicht eine einzige Hauswand mit solch einem Ornament gesehen, in den traditionellen Dörfern dagegen scheint es zum Inventar zu gehören.
Eine Freundin aus unserer Gruppe, die für ihre feministischen Einwände bekannt ist, meldet sich zu Worte und übt schärfste Kritik am typisch Sexistischen dieser Mentalität. Ohne Umschweife erklärt sie Sonam, dass es ihr unbegreiflich sei, warum das männliche Geschlechtsteil ausgesucht worden sei, um Segen und Glück zu bringen. Wo doch das weibliche ebenso gut in Frage komme und noch dazu als Sinnbild für die Geburt des neuen Lebens stehen könne. Entsetzt schauen wir sie an, da sie erfahrungsgemäß nicht müde wird, solche Themen bis ins Unendliche auszuschlachten. Die Tatsache, dass Sonam nur einen verständnislosen Blick als Antwort aufbringen kann, besänftigt unsere Freundin nicht gerade. Also sehe ich den Moment gekommen, ihrem feministischen Gefühlsausbruch ein jähes Ende zu bereiten, um dem etwas überforderten Sonam zu Hilfe zu kommen. Ich warte mit einem – wie ich finde – gelungenem Argument auf: Sie solle sich nicht so aufregen, denn schließlich gebe es auch Länder, die das weibliche Geschlechtsteil vorziehen würden, beispielsweise die Seychellen. Die emanzipierte Freundin sieht mich verblüfft an. Wie ich das meine. Nun sind alle Augen auf mich gerichtet, also tut Aufklärung not: Eine Kokosnuss namens Coco de Mer ist das Nationalsymbol der Inselgruppe. Und diese Kokosnuss bekommt man schon bei der Ankunft in den Pass gestempelt. Um mich herum nur fragende Blicke. Na, diese Kokosnuss sieht aus wie … wie soll ich sagen? Wie … ein nackter weiblicher Schoß. Also wenn das keine Entsprechung zu dem bhutanischen Symbol hier ist!
Nun ergreift Sonam das Wort und erklärt, dass „ihr“ Symbol auf einen gewissen „Holy Madman“, den Lama Drukpa Kunley zurückgehe. Dieser habe im 15. Jahrhundert sein Geschlechtsorgan recht freizügig in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt, um mit dessen Hilfe die bösen Dämonen zu bekämpfen, Frauen zum Buddhismus zu bekehren und die damalige Religion zu verspotten. Nachdem nunmehr die Herkunft des überdimensionalen Geschlechtsteils geklärt ist, fragt Sonam, ob sich auf den Seychellen Ähnliches zugetragen habe. Tief beeindruckt zucke ich die Achseln und stelle einfach nur für mich fest, dass es Ereignisse gibt, über die man besser schweigend hinweggehen sollte. Als Mitbringsel für unsere vielen Freundinnen zu Hause kaufen wir übrigens – wie könnte es anders sein – hölzerne Phalli, handgemachte wohlgemerkt, die es in Souvenirshops zu kaufen gibt, wie in Griechenland Statuen von dürftig, wenn überhaupt, bekleideten Göttern des Olymps oder in Spanien Flamencotänzer. Jedes Land verkauft nun einmal das, was es in Hülle und Fülle zu bieten und vor allem zu entbehren hat: nackte Götter, temperamentvolle Tänzer oder hölzerne, tatendurstige Phalli. Jedem das Seine!
Sonam versucht schon seit Tagen, uns den tibetischen Buddhismus, der hierzulande die größte buddhistische Schule darstellt, näher zu bringen und uns über historische und religiöse Einzelheiten aufzuklären. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass dieser Versuch mit großem Erfolg gesegnet ist. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob es ausschließlich daran liegt, dass unsere Festplatte ganz offensichtlich aufgrund fortgeschrittenen Alters nur über eine gewisse Speicherkapazität verfügt. Auf jeden Fall handelt es sich um eine nicht gerade einfache Religion, bei der es die ohnehin schon komplizierte Reihenfolge der Inkarnation verschiedener Gelehrter zu verinnerlichen gilt. Schon längst haben wir den Versuch aufgegeben, uns einzuprägen, wer wessen Meister war und hören permanent den einen Namen heraus, nämlich Guru Rinpoche, die Schlüsselfigur, um die sich alles in diesem Land zu drehen scheint.
Diesem Guru Rinpoche begegnen wir in jedem Dzong, aber auch sonst sind alle Informationen unablässig auf ihn bezogen. Eigentlich hieß er Padmasambhava. Diesen Namen können wir uns nur bedingt merken, die Information, dass er in dem wichtigen Jahr 1616 von Tibet geflogen kam, dagegen umso mehr, zumal dieser Flug auf nichts Minderem als auf dem Rücken eines Tigers stattfand. Das Eigenartige an der Geschichte ist der Umstand, dass es sich eigentlich gar nicht um einen Tiger handelte, sondern um einen Menschen namens Yeshe Tsogyal, der ohne Umschweife zwecks Benötigung eines Transportmittels in einen Tiger verwandelt wurde. Wir fragen uns allen Ernstes, warum die Wahl ausgerechnet auf den Tiger fiel, wo doch Vierbeiner bekanntlich schlechte Flieger sind. Wenn es schon eine Verwandlung sein musste, warum nicht gleich in einen Adler? Dieser hätte seine riesigen Flügel ja auch majestätisch durch die Lüfte schwingen und den Guru sicher zu dieser Höhle befördern können, die damals noch nicht bhutanisch war, da das Land ja noch nicht existierte. Unsere entsprechende Frage an den Guide stößt wieder einmal auf größtes Unverständnis und so belassen wir es also bei dem fliegenden Tiger, der zielsicher vor einer Höhle über dem Paro-Tal landete, sodass der Guru endlich absteigen und in derselbigen meditieren konnte. Genau an dieser steilen Felswand und in über 3.000 m Höhe befindet sich heute ihm zu Ehren das Kloster Tiger´s Nest, Bhutans Touristenattraktion und Postkartenmotiv schlechthin.
Und nachdem wir diese Geschichte nun schon etliche Male vernommen haben, erklärt uns Sonam auch das Konzept der Flagge, indem er uns die Bedeutung jeder Farbe eindringlich vermittelt. Die Nationalflagge besteht nicht aus drei senkrechten oder waagerechten Balken, wie es in Europa mehr oder weniger üblich ist, sondern ist sehr einfallsreich diagonal in zwei Teile gesplittet. Das untere Dreieck ist Orangerot, was die geistliche Macht des Buddhismus repräsentiert und das obere Safrangelb steht für die weltliche Macht des Königs, weswegen der König auch die entsprechenden gelben Stiefel trägt. Über den zwei Farben breitet sich der Drache aus, nach dem das Land benannt ist, und zwar ganz in Weiß, was Sauberkeit und Ehrlichkeit signalisiert. Der Drache symbolisiert das Universum und hält in jedem seiner Fänge eine Kugel, von denen die eine die Erde ist.
Wer hätte das gedacht, dass diese Reise einen derart großen Aufwand an Konzentration voraussetzen würde und dass hier dem Motto „Reisen bildet“ alle Ehre gemacht wird. Eine Bildungsreise kann auf Dauer anstrengend sein und tatsächlich sind uns schon Anzeichen leichter Ermüdung anzusehen. Umso größer ist unsere Erleichterung, als Sonam uns ganz nebenbei fragt, ob wir gesegnet werden möchten. Wir wittern eine willkommene Abwechslung und antworten mit einem aufmunternden Nicken. Was kann so ein Segen mitten im asiatischen Bhutan schon schaden! Zumal der Buddhismus ja nun wirklich eine durch und durch friedliche Religion ist und weder Anzeichen von Rivalität oder Konkurrenz zu unserem Jesus Christus aufweist noch deren Anhänger unter den Zwang stellt, jeden bekehren zu müssen, der ihnen über den Weg läuft. Überhaupt sind wir ganz zuversichtlich, dass dieser Segen unseren Jesus Christus schon nicht verärgern wird, also steht dem Besuch noch eines Dzongs nichts im Wege, schließlich haben wir hier schon etliche aufgesucht, da kommt es auf eine Klosterfestung mehr oder weniger auch nicht mehr an.
Bei der Gelegenheit können wir die wilden Bienenstöcke von enormer Größe bewundern, die fast immer unter deren Dächern hängen. Anfangs denken wir in unserer europäischen Naivität, diese schwarzen überdimensionalen Zungen sind dicke Samtstoffe, die gut zu den farbigen, liebevoll bemalten Holzbalken passen und sich somit als Teil der Dekoration gut machen. Weit gefehlt!
Wie an jedem Dzong ziehen wir auch am Eingang von Chimi Lhakhang unsere Schuhe aus, um dem Mönch unsere Aufwartung zu machen. Wir sollen uns nebeneinander vor dem Altar aufstellen und auf ihn warten. Mit diesen Worten verschwindet der Mönch hinter einem Vorhang und erscheint kurz danach wieder. Fassungslos und mit einigem Unbehagen realisieren wir, was er in der Hand hält, und schauen uns verstört an. Nichts, aber rein gar nichts hat uns in all den Jahren unseres Lebens auf einen solchen Anblick vorbereitet. Mit einem unheilverkündenden Monstrum von hölzernem Penis, den er ohne jegliche Anzeichen von Zimperlichkeit oder Verlegenheit an den Hoden hält, kommt er auf meine Busenfreundin zu. Augenblicklich senkt sich vollkommene Stille über unsere Häupter. Der Mönch ist beim Erfüllen seiner Pflichten von einer solchen Bestimmtheit, die keinerlei Zweifel zulässt, dass er seinen Beruf mit unbeirrbarer Gläubigkeit ausübt. Meiner Busenfreundin soll als Erste der Segen zuteil werden, darum baut er sich vor ihr auf und lässt den „Magischen Donnerkeil der Weisheit“ über ihrem verblüfften und weniger hingerissenen Gesicht kreisen. Je länger sie in stocksteifem Zustand ausharren muss, desto größer wird die Ähnlichkeit mit der Gestalt auf Edvard Munchs „Der Schrei“.
Schließlich holt der Mönch mit dem Geschlechtsteil wie mit einer Axt aus und … ich schließe die Lider. Vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie meine Busenfreundin unter seinem Gewicht zu torkeln beginnt, vornüberkippt und diesen Guru aus dem Jahre 1616, der nichts ahnend auf dem Altar steht, einfach mitreißt. Die Prozedur wiederholt er bei uns allen, sodass einer nach dem anderen auf den Boden kullert und sich reglos neben sie gesellt. Ich schüttle den Kopf, um das Spukbild zu vertreiben und öffne wieder die Augen. Erleichtert atme ich auf und stelle zum wiederholten Male fest, dass meine Fantasie mit mir durchgegangen ist. Und dass die Welt heile ist. Der Priester berührt mit dem hölzernen Wunderhorn nur sachte den Kopf der Busenfreundin, indem er ekstatisch einige uns unverständliche Mantra-Worte murmelt. Genauso geht er mit dem Rest der Gruppe vor und ich beobachte beruhigt, dass die Holzkeule noch kurz vor der Landung auf dem Kopf abgebremst wird, und somit keinerlei Gefahr einer körperlichen Misshandlung oder einer Ohnmacht besteht.
Nachdem jeder von uns ein halbes Glas Wasser durch den Raum schüttet, übersetzt uns Sonam dankenswerterweise, dass wir uns nun durch diesen Segen befreit fühlen werden von jeglicher inneren Last, die uns bis jetzt bedrängt hat. Außerdem werden unsere Wünsche verwirklicht und Familienzwiste bereinigt. Na, wenn das kein lohnenswerter Besuch gewesen ist! So einen Segen bekommt man schließlich nicht alle Tage! Zwischen Tür und Angel erwähnt unser Guide noch ganz nebenbei, dass es sich um einen sehr bekannten Temple of Fertility handelt, den kinderlose Paare sogar aus Europa und den Staaten aufsuchen. Oft genug trägt der Segen des Priesters schon nach einem Jahr Früchte. Wir Frauen des europäischen Königs tauschen panische Blicke aus und haben nur einen Gedanken: Das hat uns gerade noch gefehlt, dass wir in fortgeschrittenem Alter noch ein Kind austragen. Aber von solchen Nebensächlichkeiten lassen wir uns nicht unsere gute Laune verderben und befreit von jeglichem Kummer machen wir uns wie Pennäler nach Schulschluss daran, die Strecke vom Kloster zu unserem Minibus zurückzulegen.
Die Befreiung von jeglichem Kummer soll bald vonstatten gehen. Zumindest was meine Wenigkeit betrifft. Ich muss mich plötzlich vornüberbeugen. Furchtbare Krämpfe durchziehen meinen Unterleib und münden sehr bald in das heftige Bedürfnis, die nächste Damentoilette aufzusuchen. Man stelle sich bitte schön die Situation vor: In the middle of nowhere ist mein dringendster Wunsch, ein WC mit Spülung und Toilettenpapier ausfindig zu machen, um mich der Tücken der landesüblichen Mahlzeiten, sprich jeglicher inneren Last – um den Mönch zu zitieren – zu entledigen. Das einzige, was sich in Anbetracht der ernsthaften Lage auftreiben lässt, sind ein paar Papiertaschentücher, die jeder solidarisch aus dem Rucksack hervorkramt und mir mit einem mitleidigen Blick überreicht. Schweißgebadet greife ich danach und laufe – insofern man diese Art von Fortbewegung in schweren Momenten wie diesem und unter solch unkomfortablen Bedingungen Laufen nennen kann – auf einige spärliche Bäume zu, hinter deren dürren Stämmen ich vorhabe, meine Notdurft zu verrichten. Während mir der Wind um meine Blöße weht und von meiner Stirne in unregelmäßigen Bächen der Schweiß rinnt, gelobe ich hoch und heilig: Wenn ich gesund und lebendig von hier wegkommen sollte, werde ich diesem Guru Rinpoche… zu entkräftet bin ich, um einen halbwegs vernünftigen Gedanken fassen zu können, was man einem Guru als Dank stiften könnte.
Da bekanntlich derjenige, der den Schaden hat, für den Spott nicht weiter zu sorgen braucht, folgen nach verrichteter Tat hänselnde Kommentare seitens meiner Reisebegleiter. Sie können sich der Schadenfreude nicht erwehren und nehmen mein Leiden, aber erst recht meine Erleichterung in der Natur zum Anlass, um sich daraus den Spaß der Woche, was sage ich, des Monats zu machen. Ohne Zweifel sei ich die Auserwählte dieses Guru Rinpoche, denn schließlich hätten wir uns nicht umsonst zehn Tage lang seine Legenden angehört – es sei denn, er treibe ein grausames Spiel mit mir … der Segen scheine bei mir ja wirklich sofortige Wirkung zu haben … kaum sei der Penis auf dem Kopf gelandet, schon sei ich von meiner inneren Last befreit worden … in erstaunlich kurzer Zeit sei Abhilfe geschaffen worden … nieder mit den herkömmlichen Abführmitteln, ein Hoch auf den Penis-Segen … und so weiter und so fort. Außerstande, etwas zu meiner Verteidigung zu erwidern, lasse ich alles über mich ergehen und bin einfach nur froh, endlich im Auto zu sitzen.
Ein halbes Jahr später soll der Segen übrigens erneut seine Wirkung zeigen. Ich komme nicht umhin, mich von dem Ergebnis dieser Reise und nicht zuletzt dieser Segnung hoch befriedigt zu erklären, denn nach jahrelangem Singleleben ist mir eine neue Liebe, ein neues Glück beschieden. Der Guru hat es zweifelsohne gut mit mir gemeint. Ich würde mich gern dankbar dafür erweisen, weiß aber nicht wie. Vielleicht durch diese Geschichte? Wie der werte Leser von alleine festgestellt haben dürfte, ist Bhutan mit seinen liebenswerten Menschen und den sanften Traditionen allemal eine Reise wert. Und nicht nur des Gurus und seines Segens willen. Wer also immer noch mit der Entscheidung zögern sollte, dem sei gesagt: Wie gut, dass ich mich doch für diese Reise entschieden habe.
Herzlichen Dank an Ute Petkakis für das Gegenlesen!
Copyright 2018 Christina Antoniadou / All rights reserved
Als eine der Beschenkten bin ich in den Genuss eines hölzernen Penis gekommen. Nach anfänglichem Erstaunen und Erröten und nach den nötigen Erklärungen, die mit dem Geschenk einhergegingen, habe ich es in einem Küchenschrank verstaut, mit der Hoffnung, dass es niemand zu Gesicht bekommt. Doch der Teufel hat überall seine Hand im Spiel. Man kann sich vorstellen, wie peinlich es mir war, als meine Tochter in der Küche etwas suchte und auf das ungewöhnliche Geschenk stieß. Nun erklär mal einer, was es damit auf sich hat …
Sehr informativ, sehr schön rübergebrachte Erlebnisse, wunderbare, den Text begleitende Bilder
Was man in Leben so alles erfährt.
Bin auf die nächste Geschichte gespannt.
Diese Geschichte ist überaus lesenswert. Unglaublich informativ, aber ebenso lustig. Ich musste mehrmals laut herauslachen. Danke dir! Ich bin schon ganz ungeduldig und warte auf die nächste Geschichte.
Ich bin eine der Freundinnen, die einen hölzernen Penis als Geschenk bekommen hat. Ich bewahre ihn zwischen meiner Unterwäsche auf, in der Hoffnung, dass ihn niemand findet, denn wie sollte ich sonst seine Existenz erklären?
Ich glaube, Segen und Wünsche erfüllen sich, wenn man daran glaubt!!
Bhutan ist zweifellos ein sehr interessantes Land, wo die Menschen es geschafft haben, glücklich miteinander zu leben! Eine sehr schöne Beschreibung!