4. Emil, der Fraueneroberer - Home Is Everywhere

von Christina Antoniadou

Wer schon einmal umgezogen ist, weiß, wovon die Rede ist. Wenn es dann auch noch von London nach Johannesburg geht, entpuppt sich der Umzug als ein wahres Erlebnis, denn immerhin liegen über 9.000 km Flugstrecke und vermutlich mindestens genauso viele Seemeilen für die Kartons dazwischen.

Da schon einige geografisch weniger Kundige freudig festgestellt haben, dass ich wieder in Deutschland lebe, sei erwähnt, dass sich Johannesburg zwar sehr deutsch anhört, sich aber seit 1886 am unteren Ende Afrikas befindet. Es handelt sich um die größte Stadt des Landes Südafrika, dessen Name von einem gewissen Mangel an Fantasie zeugt, zumindest verglichen mit anderen Ländernamen des schwarzen Kontinents, die durchaus exotischer und geheimnisvoller anmuten.

In London wohnen wir in einem möblierten Appartement, darum gibt es außer einem Regal und einem Computertisch samt Computer nichts weiter an Möbeln zu transportieren. Insgesamt kommen wir auf eine armselige Anzahl von Umzugskartons, in denen Kleidung, Schuhe, ein paar Haushaltsgeräte, Bücher und Aktenordner verstaut sind. Alles wird innerhalb weniger Stunden von Angestellten einer relocation company professionell und stoßsicher eingepackt.

Schon schwimmt unser einjähriges Londoner Leben Durban entgegen, der südafrikanischen Hafenstadt am Indischen Ozean, wo alles ordnungsgemäß durch den Zoll muss. Eigentlich sollten die Kartons schon nach 6 Wochen im neuen Heim stehen, aber erst nach 12 Wochen trudelt der Lastwagen ein und hält vor unserem gate. Den Grund für die Verspätung haben wir nie erfahren. Wozu auch?

Nach so vielen Wochen Dunkelheit im Container sind unsere wenigen Habseligkeiten schon ganz gespannt auf ihr neues Zuhause. Auf ihr leeres Zuhause, denn der Erwerb von Möbeln ist, wie die werten Leser bereits wissen, eine Geschichte für sich. Ich versuche, die gerade eingetroffenen Kartons zu öffnen und ein bisschen Ordnung zu schaffen. Das will mir allerdings nicht recht gelingen, denn beim Auspacken höre ich lautes Gezwitscher aus dem wunderschönen Garten unseres Joburger Hauses.

Ganz entzückt von dem Anblick lasse ich von meiner monotonen Tätigkeit ab und gehe an die Terrassentür, um mir den Ursprung dieser melodischen Geräuschkulisse aus der Nähe zu betrachten. Eine ganze Vogelschar flattert um einen Baum herum und scheint in ausgelassener Stimmung zu sein. Lebhaft wippen die Zweibeiner so lange auf einem Zweig, bis ihnen langweilig wird und sie dann behände auf den nächsten hüpfen. Die Stimmkräftigsten unter ihnen haben sich auf der Hecke niedergelassen und trällern von dort aus ein fröhliches Lied. Laut und gesellig sind die Kerle und schön gelb obendrein.

Wie sie wohl heißen mögen? Beim Googeln stoße ich auf eine Vogelart, die den Burschen im Garten doch sehr ähnlich ist. Es scheint sich um Webervögel zu handeln und diese vielversprechende Entdeckung macht mich neugierig, zumal einige von ihnen mit Halmen im Schnabel herumhantieren.

Es ist Oktober, also Frühling in Südafrika und somit Brutzeit, demnach müssen die Männchen unter Beweis stellen, dass sie gute Nestbauer sind, um die Weibchen zur Paarung für sich zu gewinnen. Und als polygame Wesen legen sie dann gleich mehrere kompliziert gesponnene kunstvolle Hängenester an. Unsere leuchtend gelben Gesellen im Garten gehen nach Plan vor und entfernen erst einmal äußerst sorgfältig alle Blätter von dem Ast, den sie sich für den Bau eines Nestes ausgesucht haben, vermutlich um sich nähernden Nesträubern keine Angriffsfläche zu bieten.

Es ist schon imponierend, welcher Methoden sich die Natur bedient, um den Fortbestand der Spezies zu sichern. So sahen wir beispielsweise bei einem game drive, also bei einer Safari, in der Nähe von Johannesburg reihenweise aufgespießte Käfer auf Dornen und Stacheln. Fälschlicherweise vermuteten wir, dass es sich hier um sadistische Praktiken in der Tierwelt handelt, wurden aber alsbald vom Ranger eines Besseren belehrt und darüber aufgeklärt, dass das Männchen einer bestimmten Vogelart damit in seinem Revier eine Art Winterquartier anlegt.

Diese Vorratsplätze entsprechen unserem Kühlschrank, der bestückt werden will und dessen man sich bedient, wenn man Hunger hat. Je besser also die Vorratskammer des Männchens ausgestattet ist, desto erfolgreicher wird er bei den Weibchen sein, sie zur Paarung zu bewegen. Bei den Menschen funktioniert es ja nicht anders: Je besser situiert ein Mann ist, desto mehr Frauen interessieren sich für ihn, auch wenn er nicht durch andere Eigenschaften hervorsticht.

Zurück zu unseren Webervögeln. Jeden Morgen wenn ich aus dem Fenster schaue, sind die Webermännchen schon fleißig am Werk und ein ganzes Stück weiter mit dem Bau ihrer Kugelnester. Es ist das reinste Vergnügen, ihnen bei der Arbeit zuzuschauen, denn groß ist der Elan, mit dem sie zu Werke gehen. Scheinbar unermüdlich fliegen sie los, zupfen Grashalme und Blattstreifen aus der Umgebung und spannen diese mit dem Schnabel in mühseliger Kleinstarbeit zu einem Kugelnest. Dabei erweisen sie sich als hervorragende Architekten und Ingenieure in einem, indem sie zuerst einen ovalen Reif an einem Ast befestigen, dann breitbeinig auf demselbigen balancieren und jeden einzelnen Grashalm einweben, bis eine Seite blickundurchsichtig geflochten ist. Kunstvoll fädeln sie jeden weiteren Halm um die Halbkugel, die sie anfertigen.

Ich kann ihre Geschicklichkeit und die verschiedenen Stellungen, welche die Webervögel beim Bauen einnehmen, nicht genug bewundern. Sie verdrehen ihren Hals und verbiegen ihre Beine derart ungewohnt, dass ich fast befürchte, sie würden sich Hals und Beine verrenken. Doch nichts dergleichen geschieht.

Wenn die Decke der Kugel eine ovale Form angenommen hat, hängen sich die Vögel an die untere Seite des jeweiligen Nestes und arbeiten weiterhin behände, auch wenn diese Arbeit enorm anstrengend aussieht. Sie weben den Boden zu Ende und flattern dabei ununterbrochen mit den Flügeln, um nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen. Das Nest schwingt durch die Arbeit und das Flattern des Webervogels ständig hin und her, fällt aber nicht vom Ast, weil der erfahrene Baumeister es gut befestigt hat.

Mir wird bei diesem Anblick ganz schwindelig, weil ich mir meine bessere Hälfte bei dieser Arbeit vorstelle. Bei einem ähnlichen Versuch, unser Heim herzurichten, hätte er schon nach wenigen Sekunden einen hochroten Kopf und ich würde ihn besorgt von der Baustelle herunterbitten. Nicht so die unscheinbareren Weberweibchen. Während die Männchen die Akrobatennummer absolvieren, sitzen sie in der Nähe und beobachten das ganze Vorgehen, lassen auch hin und wieder Laute von sich, die als Zwitschern charakterisiert werden könnten, aber dass sich eine von ihnen berechtigte Sorgen machen würde, könnte ich nicht behaupten. Die Männchen lassen sich ohnehin durch nichts beirren und sind vollends auf ihren Bau konzentriert.

Nach ein paar Tagen haben einige der gefiederten Freunde ihr oval förmiges Nest bereits fertiggestellt, an dessen unteren Seite sich ein Loch befindet, durch das der Vogel Zugang zum Innenraum hat. Auf dem Boden der Kugel werden dann theoretisch die Eier gelegt und ausgebrütet, vorausgesetzt, es findet sich ein Weibchen, das mit diesem Nest happy ist – wie man so schön in Südafrika zu sagen pflegt – und es für diesen Zweck annimmt.

Ein Webermännchen hat seiner Meinung nach ein Nest zu seiner vollsten Zufriedenheit fertiggestellt. Er ist der erste der Bauarbeitergruppe, der ein Weibchen zur Begutachtung einlädt. Der Einfachheit halber nenne ich den lieben Kerl Emil. Emil schlüpft einige Male rein und raus, um zu sehen, ob der Eingang auch die erforderliche Größe hat, aber nicht zu groß ist, denn sonst purzeln die Eier hinaus oder einer der vielen Feinde, die draußen lauern, kann sich hineinschleichen. Also bastelt und korrigiert er noch ein bisschen überall herum und … das Werk ist vollbracht … tätärätä … mit Pauken und Trompeten, sprich viel Gezwitscher lockt Emil seine Auserwählte und preist seinen Neubau an, der fortan zur Inspektion freigegeben ist.

Das Weibchen, das jetzt der Einfachheit halber den Namen Lotte bekommt, schaut bis jetzt all die Tage nur gelangweilt und den Schnabel rümpfend zu. Lotte, sozusagen die Bauaufsichtsbehörde, darf nunmehr mit dem Kontrollgang beginnen und tut dies in übertriebener Inszenierung. Das Kugelnest ist frischgebaut und saftig grün, eigentlich sehe ich keinen Grund, warum es der potenziellen Frau Gemahlin nicht zusagen sollte. Gespannt wie ein Flitzebogen drücke ich mir die Nase an der Fensterscheibe platt, um von den Ereignissen draußen nichts zu verpassen. Anfangs beäugt das Weberweibchen Lotte den Bau nur kritisch, aber nach einer Weile scheint auch sie – im wahrsten Sinne des Wortes – vor Aufregung ganz aus dem Häuschen zu sein und veranstaltet vor ihrer potenziellen künftigen Bleibe ein Gezeter ohnegleichen. Wichtigtuerisch flattert sie, mit den Flügeln hektisch schwingend, um das Nest herum und begutachtet es von allen Seiten. Danach krallt sie sich außen fest und fängt kräftig an zu ruckeln, vermutlich um die Stabilität ihrer zukünftigen Behausung zu testen.

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Geräusche, die sie von sich gibt, nicht unbedingt als positiv gedeutet werden können. Und schon soll ich Recht behalten. Ihrer Meinung nach weisen sowohl Emil als auch dessen Fähigkeiten als Bauarbeiter erhebliche Mängel auf, denn nach dem gleichen Schema, wie Emil tagein, tagaus Pflanzenfaser um Pflanzenfaser miteinander verwoben hat, nimmt Lotte, die Zerstörerin, es Halm für Halm auseinander. Ihrem Destruktionstrieb sind praktisch keine Grenzen gesetzt und ohne ein Hehl aus ihrer augenblicklichen Gemütsverfassung zu machen, zupft und zerrt und reißt Lotte mit dem Schnabel alles kaputt, und veranstaltet dabei ein unglaubliches Gezeter. Wenn Doktor Dolittle in der Nähe verweilen würde, könnte er es vermutlich wie folgt übersetzen: Du Unsäglicher! Nichts, aber rein gar nichts kriegst du gebacken! Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass man die Halme nicht von links nach rechts, sondern von rechts nach links webt. Aber du weißt ja immer alles besser. Das hast du jetzt davon. Bau das Ding noch mal neu! Aber dalli!

 

Als auch das letzte Teilchen des Kunstgebildes auf dem Boden verstreut ist, kehrt Stille ein. Was für ein Desaster! Ich traue meinen Augen nicht! Das Produkt tagelanger Arbeit, kunstvolle Technik, Schlingen und Knoten, die behutsam und in mühevoller, was sage ich, in minutiöser Kleinstarbeit miteinander verwoben wurden, ist innerhalb von wenigen Momenten geschunden auf dem Rasen gelandet. Ein Ehekrach scheint unausbleiblich.

Doch wie reagiert der Herr des Hauses? Mein Blick richtet sich auf Emil. Gar nicht. Er sitzt nur ruhig auf einem Ast. Schaut die ganze Zeit nur zu. Er fährt ihr nicht an die Gurgel, rupft ihr nicht das Federkleid vom Leib. Nichts davon zieht er in Betracht. Auch sein Werk zu verteidigen, kommt ihm nicht in den Sinn. Keine Frage, wer hier die Hosen anhat.

Emil setzt erneut zur Sisyphusarbeit an und dieses Mal macht sich Lotte erst gar nicht die Mühe, das Nest nach allen Regeln der Kunst zu zerzausen, sondern löst oben einfach nur die Halterung, sodass das Nest auf den Boden plumpst und nicht weiter beachtet wird. Entweder ist Emil noch ein sehr junger und unerfahrener Nestbauer oder er hat sich mit Lotte das zickigste Weberweibchen afrikaweit angelacht. Andere Weibchen haben schon begonnen, das gebastelte Nest ihrer besseren Hälfte für den Nachwuchs vorzubereiten, indem sie es mit Federn, Wolle und Moos aus der näheren Umgebung weich auspolstern, aber Lotte ist einfach mit nichts zufrieden zu stellen.

Ich kann als Frau keinerlei Solidarität für kapriziöse Weberweibchen wie Lotte es eins ist aufbringen. Beim besten Willen nicht. Am liebsten würde ich sie sozusagen von Frau zu Frau am gefederten Kragen packen und ihr gehörig den Marsch blasen, wenn ich denn könnte. Einen Vogel würde ich diesem Vogel allemal zeigen. Was denkt sie sich eigentlich dabei, so mit dem armen Emil umzugehen?

Monate später steht in unserem Joburger Haus kein einziger Karton mehr herum. Die wunderschönen, in Südafrika erstandenen Möbel befinden sich alle an ihrem Platz. Wenn auch nicht ganz ohne Widrigkeiten und Verzögerungen haben wir es dennoch geschafft, uns nett einzurichten und es uns gemütlich zu machen. Gemütlich, was für ein herrlicher Begriff, um dieses Gefühl auszudrücken. Wir fühlen uns wohl in Johannesburg. We are home now.

Unser Baum im Garten dagegen hängt nunmehr voller verlassener Kugelnester, deren satte grüne Farbe sich zu einem verdorrten, blassen Beige gewandelt hat. Viele von diesen Nestern sind nie bewohnt worden, weil einige von Lottes Kameradinnen ähnlich anspruchsvoll vorgegangen sind. Diese haben sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, die Nester auseinanderzunehmen oder vom Ast loszutrennen, sondern sie einfach nur mit der nötigen Ignoranz einer eigensinnigen Dame gestraft.

Schon lange herrscht kein reges Treiben mehr um den Baum herum, weil die Jungen ausgeflogen sind. Ein bisschen sieht das Ganze wie ein lieblos geschmückter Weihnachtsbaum aus, dessen Besitzer es versäumt haben, die Christbaumkugeln wieder abzunehmen, welche nun durch Witterungseinflüsse langsam zerfallen. Und wenn der Wind die verdorrten Kugelnester hin und her schaukelt oder es sogar schafft, sie vom Baum herunterzuzerren, sodass sie ziellos im Garten herumirren, hat es auch eine gewisse Ähnlichkeit mit einer trostlosen Geisterstadt aus dem Wilden Westen, in der das losgelöste Buschwerk tumbleweed, der Steppenläufer, durch die leeren Straßen rollt.

 

 

 

Herzlichen Dank an Ute Petkakis für das Gegenlesen!

Copyright 2017 Christina Antoniadou / All rights reserved 

 

error: Content is protected !!

By continuing to use the site, you agree to the use of cookies. more information

The cookie settings on this website are set to "allow cookies" to give you the best browsing experience possible. If you continue to use this website without changing your cookie settings or you click "Accept" below then you are consenting to this.

Close