23. Ein Schmelztiegel am südlichsten Zipfel - Home Is Everywhere

von Christina Antoniadou

 

Es ist wirklich ein Kreuz mit unserer Alarmanlage. Bevor ich das Haus verlasse, stelle ich jedes Mal alles vorschriftsmäßig ein, schließe die Haustür und das Garagentor und drücke auf den roten Knopf des Transponders. Dieser signalisiert mir nach drei Sekunden mittels eines Blinkzeichens, dass ich nun beruhigt von dannen ziehen kann, denn das Haus befindet sich einbruchsicher in den Händen der ADT. Das ist das bekannteste Security-Unternehmen des Landes und der größte Anteil der Häuser ist mit einem entsprechenden Schild am Einfahrtstor versehen, das dem noch unschlüssigen Einbrecher mehr oder weniger signalisiert, lieber die Finger von diesem Haus zu lassen und mit einem anderen Gebäude vorlieb zu nehmen, für dessen Sicherheit dieses Unternehmen nicht verantwortlich ist.

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Für den Fall, dass der potenzielle Einbrecher unbelehrbar und unbekehrbar sein sollte, ist das Haus direkt mit der ADT-Zentrale verbunden, die – kaum heult der Alarm auf – mich unverzüglich übers Handy anruft und mir erst einmal die landesübliche Frage stellt: Hi Madame, how are you? Ich meinerseits erwidere artig und wohlerzogen, der Rituale des Landes nunmehr kundig, auch wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass gerade das Haus abgefackelt oder die halbe Familie fachmännisch ins Jenseits verfrachtet wird, falls sie sich dummerweise im Haus befinden sollte: Hallo. Thank you, I am fine. How are you? Die ADT-Antwort ist, wie nicht anders zu erwarten: Thank you, good good. This is ADT, Madame. Whom am I speaking to? In fließendem Englisch nenne ich ihr meinen Namen. We received an Alarm call from your property. Are you at home? Spätestens an dieser Stelle könnte man der höflichen Dame am anderen Ende sagen, dass die Alarmanlage einen äußerst ungünstigen Moment ausgesucht hat, um auf ihre Existenz aufmerksam zu machen. Das Gleiche gilt für die Dame in der Telefonzentrale, denn entweder erwischt sie mich gerade in der Umkleidekabine und ich blicke nur notdürftig bekleidet in den Spiegel oder ich bin dabei, die 18 vollen Supermarkttüten in dem Kofferraum zu verstauen oder ich liege bei der Physiotherapeutin auf der Bank, welche überall da drückt, wo es am meisten weh tut. Zu gern wüsste ich, welcher Teufel diese Anlage reitet, denn jedes Mal, wenn mich die Damen von ADT anrufen, ist es im unmöglichsten Moment und ich spreche mit ihnen nie freihändig, sondern das Telefon zwischen Schulter und Ohr festgeklemmt in der Hoffnung, dass es nicht auf dem Boden krachend zerschellt.

Die ADT-Angestellte ruft mich meist eine knappe Stunde nach Verlassen des Hauses an. Jedes Mal. Jeden Tag. Auch im Urlaub. Auch wenn wir über alle Berge, also in Europa sind. Sie leiert ihren Spruch herunter und fragt, ob sie jemanden nach Hause schicken soll, der nach dem Rechten schaut. Im Klartext bedeutet dies Folgendes: Der ADT-Angestellte, der in der Nachbarschaft auf einem Fahrrad patrouilliert, kommt bis ans Tor und ruft unserem Gärtner Zondi lautstark zu, ob alles ok sei. Dieser schaut gelangweilt bei uns durch die Fenster und bestätigt der Patrouille, dass im Haus soweit keiner röchelnd in einer Blutlache liegt. Zumindest im Erdgeschoss, denn was sich im Obergeschoss abspielt, kann er nicht wissen. Und die Tür aufbrechen darf er nicht. Weder er noch die ADT-Patrouille. So steht es im ADT-Vertrag. Der Fahrradfahrer der ADT hinterlässt nach Erfüllung der Pflicht einen Zettel, auf dem sein Name und die Uhrzeit der Kontrolle verzeichnet sind. Somit hat er seine Schuldigkeit getan und kann sich beruhigt seiner Fahrradfahrt im Schatten der Jacaranda-Bäume hingeben.

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Wenn man den Ernstfall durchspielt, wird klar, dass diese Art von Kontrolle wirklicher Effektivität entbehrt. Nehmen wir einmal an, die Alarmanlage schlägt aus gutem Grund an, da ich tatsächlich im Haus festsitze und von Einbrechern mit der Waffe bedroht werde. Das Telefon läutet und die kriminellen Eindringlinge verbieten mir, es abzuheben. Der ADT-Fahrradfahrer wird zwecks Kontrolle geschickt, kommt bis ans Tor, hinterlegt seinen Zettel im Briefkasten und radelt wieder davon, während ich im Innern des Hauses Todesqualen durchstehen muss. Im besten Fall!

Nehmen wir an, die Einbrecher erlauben es mir, ans Telefon zu gehen, damit kein Verdacht erregt wird. Das Gespräch läuft wie schon beschrieben und die ADT-Angestellte fragt mich nach dem Kennwort. Wenn ich das vereinbarte Kennwort aufsage, kommt keine Hilfe, denn es ist der Beweis dafür, dass alles in Ordnung ist und ich nicht in Lebensgefahr schwebe. Im Gegenteil, ich erfreue mich bester Gesundheit und es handelt sich wieder einmal nur um falschen Alarm, der mittlerweile zur Tagesordnung gehört. Wenn ich aber absichtlich ein falsches Kennwort nenne – so wie wir bei dem Seminar belehrt wurden – ist dies für die ADT das vereinbarte Signal dafür, dass gerade Einbrecher neben mir stehen, mir die Pistole an die Schläfe halten und im besten Falle vorhaben, das Haus möglichst schnell um alles Wertvolle zu erleichtern, sobald dieser aufdringliche ADT-Mensch auflegt.

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Das Erkennungswort, das das Unternehmen übrigens für uns ausgesucht hat, ist aufgrund unserer Herkunft „Hellenic“. Und da die Sirene jeden Tag heult, findet das Telefongespräch jeden Tag statt und ich raune in Gegenwart der Physiotherapeutin, des Friseurs, der Kassiererin, der Verkäuferin oder wessen auch immer, der sich in diesem verflixten Moment vor mir befindet, das Erkennungswort möglichst leise in den Hörer, muss es jedoch wiederholen, da es die Dame am anderen Ende natürlich nicht vernehmen kann. Mit anderen Worten, dieses „Hellenic“ kennt bald mein ganzer Bekanntenkreis, und zwar ausnahmslos. Ganz zu schweigen von allen ADT-Angestellten, die Fahrrad fahren können. Also eine ansehnliche Anzahl an Joburgern. Übrigens ist in unserer Nachbarschaft ohnehin ununterbrochen ein ADT-Fahrradfahrer präsent und bewacht das Haus unseres Nachbarn. Darüber hinaus gibt es auf dem Bürgersteig ein ganzes Häuschen mit Wachpersonal, das den wichtigen Nachbarn vor jeglicher Gefahr beschützt. Welcher Einbrecher würde sich bei solchen Sicherheitsvorkehrungen in dieses Haus oder in das direkt daneben liegende wagen? Dem Ex-Präsidenten und seinem Bewachungsapparat sei Dank!

Es liegt auf der Hand, dass es mit den täglichen ADT-Telefonaten so nicht weiter gehen kann. Also bin ich diejenige, die zur Abwechslung beim Security-Unternehmen anruft, die Lage schildert und einen Angestellten anfordert, der die Alarmanlage samt dazugehörigem Überwachsungssystem checken möge. Schon am nächsten Tag steht er vor der Tür: klein, untersetzt, von braungelblicher Hautfarbe, mit  krausem Haar. Gleich nach der südafrikanischen Begrüßungszeremonie reicht er mir seine Visitenkarte, vermutlich weil er mir anmerkt, dass ich seinen Namen nicht wirklich verstanden habe. Ein Blick auf die Karte hilft enorm weiter: Neville Telemachus. So schwierig ist der Name gar nicht, aber durch seine singende Aussprache und dadurch, dass er wirklich alle Silben in die Länge zieht, hört sich sein Englisch wie eine andere Sprache an.

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So where are the cameras? fragt er mich in seiner singenden Art und Weise. Richtig, er ist ja wegen dieser lästigen Alarmanlage hier! Also führe ich ihn hinaus in den Garten und zeige ihm, wo diese unnützen Dinger platziert sind. Dabei brennen mir verschiedene Fragen auf der Zunge, allen vorneweg die nach seinem Nachnamen. Wie mag er es wohl angestellt haben, mit so einem nicht-griechischen Aussehen einen Nachnamen aus ebendiesem Land zu haben? Ich überlege, wie ich es angehen soll, um nicht indiskret zu wirken – was ich ja eigentlich bin – und hoffe nur, dass er lange genug an dieser törichten Anlage herumbasteln muss, sodass ich Gelegenheit haben werde, das Gespräch in diese Richtung zu lenken.

Er kommt mir leider zuvor und stellt die üblichen Fragen, die man hierzulande einer Europäerin stellt und möchte wissen, ob mir die Entscheidung, nach Johannesburg zu ziehen, schwer gefalle sei. Ich beschreibe ihm unsere Bekannten und Freunde in London, denen wir damals von unserem bevorstehenden Umzug nach Johannesburg erzählt hatten. Wie erwartet kamen ängstliche Blicke gepaart mit der entsetzten Frage: Was? In diese gefährliche Stadt wollt ihr ziehen? Da herrscht doch Mord und Totschlag! Neville lacht und nickt dabei: Dafür gibt es in London eine Kaltfront nach der anderen und es regnet ununterbrochen Katzen und Hunde, könnte man darauf erwidern. Ich stimme ihm zu, auch wenn ich eher der Ansicht bin, dass einige Dinge nicht unbedingt miteinander vergleichbar sind. Wissen Sie eigentlich, dass in der internationalen Statistik der Städte mit hoher Kriminalitätsrate Johannesburg momentan auf Platz Nummer 50 rangiert? Er reagiert erstaunt darüber, dass Joburg nicht höher in der Liste anzutreffen ist und ich wiederum finde seine Reaktion erstaunlich: Wenn man sich an die Anweisungen und an Faustregel Nummer eins, nämlich „be aware!“ hält, kann eigentlich nicht viel passieren. Kürzer kann eine Zusammenfassung von der Gefährlichkeit Johannesburgs kaum formuliert werden.

Als er sich mit dem Schraubenschlüssel über die erste Kamera hermacht und kopfschüttelnd ihren Zustand bewertet, tue ich so, als würde mich die Reparatur derselbigen ungeheuer interessieren. Ich schwenke dann etwas ungeschickt auf Cape Town hinüber, weil ich schon einmal gehört habe, dass die Südafrikaner mit asiatischem Aussehen meist aus der Provinz Westkap kommen. Darum frage ich ganz auf blond schaltend und so tuend als wüsste ich es nicht, ob es in Cape Town wohl auch Usus ist, dass man Alarmanlagen hat. Er nickt und fügt hinzu, dass er lange genug in Kapstadt gelebt hat, um es aus erster Hand zu wissen. Ich klopfe mir innerlich auf die Schulter, stolz darauf, anhand seines Äußeren und seines Tonfalls richtige Vermutungen angestellt zu haben. Also versuche ich das Gespräch so zu leiten, dass er mir innerhalb von wenigen Minuten die wichtigsten Anhaltspunkte zu seiner Person erzählt. Er sei in Cape Town geboren, lebe aber seit gut 20 Jahren in Johannesburg. Der Arbeit wegen, versteht sich. Vermutlich gebe es sonst keinen anderen plausiblen Grund, diese zwei Städte gegeneinander auszutauschen. Beim letzten Satz lacht er etwas bitter. In Joburg sei der Arbeitsmarkt einfach größer und man habe darum bessere Chancen als in der Mother City. Wieder meine ich einen Hauch von Trauer herauszuhören. Die Kapstädter nennen ihre Heimatstadt liebevoll „Mother City“, weil es die erste Stadt am südlichen Zipfel Afrikas ist, die von Europäern gegründet wurde. Eigenartig, dass der Ausdruck von jemandem benutzt wird, der so gar nicht europäisch aussieht.

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Waren Sie schon einmal in Cape Town? Ich nicke und erkläre ihm, dass mir seine Heimatstadt sehr gefalle. Während er seinen Blick durch den Garten wandern lässt, kommt eine etwas aus dem Zusammenhang gerissene Feststellung: In Cape Town gebe es viele solcher Häuser wie dieses. In Johannesburg würden die meisten Menschen dagegen in einem „cluster“ oder „complex“ leben. Dem ahnungslosen Leser sollte an dieser Stelle erklärt werden, dass es sich dabei um einen Wohnkomplex handelt, der von einem kantigen Mauerwerk mit den dazugehörigen elektrischen Vorrichtungen nebst Kameras, Einfahrt samt Wächtern umgeben wird und somit als einbruchsicher gilt. Wie kommt es, dass Sie sich nicht für ein cluster entschieden haben? Alle Expats wohnen in einem cluster. Aus Angst. Weil Joburg so gefährlich ist. Statt eine Antwort abzuwarten, zieht Neville eine abwertende Grimasse und findet, dass wir hier viel schöner als in diesen „clusters“ wohnen würden. Er möge diese riesigen Komplexe absolut nicht. Ich solle mir vorstellen, dass dort gut und gerne bis zu 500 Parteien leben würden. Es ist ein regelrechtes Dorf. Der Vorteil ist, dass man sich im Inneren mehr oder weniger frei bewegen kann. Die Kinder spielen unbeschwert und können mit dem Fahrrad fahren.

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Ich muss lachen und da er mich fragend anschaut, erkläre ich ihm, dass man das in Europa auch ohne den ganzen Security-Schnickschnack hinbekomme. Erstaunt lässt er Kabel, Kamera und Schraubenzieher sinken. Es gibt in Europa keine Alarmanlagen? Keine Mauern? So pauschal könne man das nicht sagen, Alarmanlagen gebe es in den letzten Jahren schon, da sich die Einbruchszahlen vervielfacht hätten. Sicherlich aber gebe es keine meterhohen Mauern um die Häuser herum. Ich erkläre ihm, welche Assoziationen ich hatte: Als ich zum ersten Mal so eine Konstruktion von wuchtiger und massiver Mauer mit elektrischen Drähten obendrauf sah, wurde mir flau im Magen und unweigerlich kam das gleiche Gefühl in mir hoch, wie damals in den 80er Jahren, als ich zum ersten Mal der Berliner Mauer gegenüberstand. Da Neville nicht genau versteht, was ich meine, wechsle ich schleunigst das Thema. Wozu soll ich den armen Burschen mit Details über das SED-System nötigen?

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Ich beschreibe ihm stattdessen, wie überrascht ich war, als ich zum ersten Mal Soweto besuchte: Bis zu diesem Tag hatte ich den Eindruck, dass sich nur die reichen Weißen Überwachungssysteme leisten. In Soweto und vermutlich auch in anderen weniger bekannten townships sind ebenfalls viele Häuser ummauert und mit gehörig viel elektrischem Draht versehen. Neville nickt bestätigend: Die nicht-weiße Bevölkerung hat sogar eher Grund zur Vorsicht, denn offiziell sind bei den meisten Delikten sowohl Täter als auch Opfer schwarzer Hautfarbe. Der Großteil der Verbrechen findet in den ärmsten Vierteln statt, also sind Reiche eigentlich weniger davon betroffen. 

Neville widmet sich nun mehr den Kameras, die nicht richtig zu funktionieren scheinen, und schweigt in den folgenden Minuten, während ich etwas Zeit benötige, um das gerade Vernommene zu verinnerlichen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass keiner von uns beiden dieses unbehagliche Thema „crime“ analysieren möchte. Eigentlich hatte ich doch vor, ihn etwas ganz anderes zu fragen. Was war es noch einmal? Dabei fällt mein Blick auf die Visitenkarte, die ich schon die ganze Zeit in der Hand halte. Richtig! Ich wollte ihn auf seinen Nachnamen hin ansprechen, also winke ich ihm mit der Karte zu und frage ihn etwas zu direkt und ohne jegliche Überleitung, ob er wisse, dass es sich dabei um einen griechischen Namen handle. Neville nickt lachend und schließt messerscharf: So are you Greek? Only Greeks ask me about my name. Gleichzeitig lässt er den Schraubenzieher sinken, nimmt die Baseballmütze ab und kratzt sich den Kopf. Um ehrlich zu sein, ich habe mir nie in der Vergangenheit Gedanken darüber gemacht, was meinen Namen angeht. Bis ich eine Herkunftsanalyse habe machen lassen. Erwartungsvoll schaue ich ihn an, denn ich bin nicht auf Anhieb im Bilde, was er damit meint. Es hat den Anschein, dass er seine Geschichte gern und dementsprechend oft erzählt, denn die Details kommen ihm recht flüssig über die Lippen: Durch diese Herkunftsanalyse habe ich ganz nebenbei erfahren, dass Telemachus der Sohn dieses Odysseus gewesen ist. Da bin ich neugierig geworden und habe angefangen nachzulesen und somit herausgefunden, dass Odysseus ein sehr berühmter und raffinierter Mann war. Stimmt doch, oder? Eine Griechin nach dem Schlitzohr Odysseus zu fragen, kann so falsch nicht sein, wird Herr Telemachus sich gedacht haben, bevor er die Frage formuliert hat. Das mag schon stimmen, trotzdem verstehe ich den Zusammenhang nicht. Wie in aller Welt kommt ein Südafrikaner aus Cape Town zu einem altgriechischen Namen? Noch dazu Nachnamen! Jetzt erst recht neugierig geworden, frage ich ihn direkt heraus: Was hat es mit dieser Herkunftsanalyse auf sich?

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Stolz teilt er mir mit, dass er sich dazu entschlossen hatte, um seine Abstammung zu erfahren. Erklärend fügt er hinzu: Kap-Malaien haben eine sehr gemischte Herkunft. Sie wissen, dass einige unserer Vorfahren Sklaven waren, nicht wahr? Zu meiner Schande sind mir Einzelheiten dazu nicht bekannt, darum setzt Neville zu weiteren Erklärungen an. Es scheint mir, als würde er dabei erneut etwas bitter lächeln. Aus den niederländischen Kolonien seien damals Sklaven aus Südostasien hierher gebracht worden, die auf den Feldern hätten arbeiten müssen. Es seien meist Menschen aus Indien, Indonesien und Malaysia, aber auch aus Mozambique, Madagaskar und der Ostafrikanischen Küste gewesen. Später seien aus diesen Ländern, vor allem aus Indien, Händler dazu gekommen. Mein Vater behauptet immer, dass sein Urgroßvater Händler gewesen sei, aber ob das wirklich stimmt? Er zuckt beim letzten Satz mit den Achseln. Ich versuche, ihm innerlich mit dem Finger auf der Landkarte zu folgen und darum erscheint es mir bei so einem multikulturellen Hintergrund nun durchaus plausibel, dass jemand Ahnenforschung betreibt.

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Trotzdem verstehe ich den Bezug zu Griechenland nicht, darum stelle ich eine dumme Frage nach der anderen: Was hat also dieser Test ergeben? Sind Sie ein Nachkomme von Odysseus? Kommen Ihre Vorfahren ursprünglich aus Griechenland? Ich weiß gar nicht, in welcher Reihenfolge ich die Details einholen soll, die sich aus dem Gespräch ergeben, jedoch halte ich mich mit der verfänglichsten aller Fragen noch etwas zurück, bis auch diese in etwas gesetzterer Form heraussprudelt, als ich es an dieser Stelle schildere: Und was hat Odysseus, dieser Teufelsbraten, angestellt, um asiatische Nachkommen zu hinterlassen? Dass er auf seiner zehnjährigen Irrfahrt großen Erfolg bei Frauen hatte und die arme Penelope auf Ithaka schmoren ließ, ist ja kein Geheimnis. Aber dass sein Fortpflanzungstrieb ihn bis nach Südostasien getragen hätte, ist mir völlig neu. Nevilles schallendes Gelächter bringt Odysseus wieder in den Mittelmeerraum zurück, wo er hingehört. Ich und Grieche? Nein, wo denken Sie hin? Gute Frage! Wo denke ich wieder einmal hin?

Glücklicherweise wartet er keine Antwort ab und fährt fort. Er sei größtenteils indonesischer und indischer Herkunft. Sichtlich irritiert schaue ich in sein asiatisches Gesicht und kann mir immer noch keinen Reim auf seinen griechischen Namen machen. Ob er womöglich von Alexander dem Großen, abstammt, denn rein geografisch gesehen kommt dieser als griechischer Namensgeber eher in Frage. Der Makedonier schaffte es schließlich in wenigen Jahren, bis nach Indien vorzustoßen und dabei ein ganzes Reich auf die Beine zu stellen. Da muss wohl jemand von Nevilles Ahnen im Geschichtsunterricht gehörig geschlafen und bei der Namensfindung die großen griechischen Männer und deren geografische Reichweite durcheinander gebracht haben. Und zwar eminent. Anders lässt sich dieses Missverständnis kaum erklären.

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Neville repariert nun schon die dritte Kamera, während ich hinter ihm herdackele und viel mehr an seinen Ausführungen als an der Alarmanlage interessiert bin. Er klärt mich endlich darüber auf, was die Namensgebung bei den Sklaven und somit die seiner Familie angeht und ich bin sehr auf des Rätsels Lösung gespannt. Die Sklaven wurden, wie gesagt, zu einem großen Teil aus Südostasien und von den indischen Küstengebieten, beispielsweise aus Bengalen, hierher verfrachtet. Enttäuscht stelle ich fest, dass Alexander der Große seine Finger doch nicht im Spiel haben konnte, denn sein Imperium reichte nur bis zum indischen Festland. Neville ahnt zum Glück nicht, welche Eskapaden meine Fantasie die letzten Minuten macht und erzählt einfach weiter: Als man diese Menschen ans Kap brachte, gab man ihnen neue Namen. Da gab es Namen, die die Herkunft signalisierten, z.B. Abraham van Bengal. Wenn ein Kind von Sklaven am Kap geboren wurde, hieß es van der Caab. Auch Monatsnamen wurden zur Namensgebung benutzt, beispielsweise April oder September. Das Alte Testament diente ebenfalls als Pate mit den Namen Adam, Moses, Isaac, Abraham, David oder Solomon. Schließlich gab es noch die klassischen Namen, also Namen von mythischen Figuren oder von Herrschern, als da wären Alexander, Hector, Titus, Hannibal, Hercules, Achilles, Jupiter und eben Telemachus.

Ich bin erstaunt über den kolonialen Facettenreichtum und darüber, dass Menschen auf der südlichen Erdhalbkugel auf geschichtsträchtige Namen hören, ohne je mit dem entsprechenden Land oder deren Nachkommen in Berührung gekommen zu sein. Und der Herr Telemachus hätte also genauso gut Herr Alexander heißen können, egal wie weit der Makedonische König auf seinem Weg gen Osten gekommen ist. Auch die Abenteuer des Frauenhelden Odysseus sind völlig sekundär und haben keinerlei Einfluss auf die Person. Schade eigentlich. Zumindest leuchtet mir jetzt ein, warum in Südafrika bis heute so eine Vielfalt an Namen erhalten geblieben sind.

Einige Dinge sind im Leben bekanntlich nicht zu ändern. Zum Leidwesen vieler meiner Mitmenschen gehört dazu wohl auch die Mentalität „Einmal Lehrerin, immer Lehrerin“, darum nehme ich mir die Freiheit, nochmals zusammenzufassen: Sie sind also halb Indonesier, halb Inder, haben aber zufällig einen griechischen Namen. Ich mache es mir wohl etwas zu einfach, denn Neville schüttelt sogleich lächelnd den Kopf und erklärt, dass der Test bei ihm noch mehr gezeigt habe. Fassungslos reiße ich die Augen auf, denn meines Erachtens geht es bei ihm im Blut eigentlich schon international genug zu, aber er scheint mit noch mehr multikulti aufwarten zu können. Bei der Untersuchung seien auch holländische Charakteristika, genauso wie Merkmale der Eingeborenen Khoikhoi entdeckt worden. Sie wissen schon, die Khoikhoi, die von den Europäern, bzw. von den Holländern damals Hottentotten genannt wurden.

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Mir leuchtet diese Kombination nicht ganz ein, doch Neville weiß auf hierauf die Antwort: Zu Beginn der Burenzeit im 17. Jahrhundert war in der damaligen europäischen Männergesellschaft am Kap der Mangel an weißen Frauen groß, also griffen die hellhäutigen, „fair skin“ Europäer auf afrikanische oder asiatische Sklavinnen, als Konkubinen zurück. So sind die coloured Kap-Malays entstanden, die mit den ausgeprägten Wangenknochen. Bei den letzten Worten zeigt er als Beweis für seine Herkunft auf seine eigenen Wangenknochen. Ich bin allerdings noch mit meinen Gedanken beim ersten Teil des gerade Vernommenen: Ist es nicht entzückend, was für Lösungen die Männerwelt bereithält, um Bedürfnisse jeglicher, aber vor allem sexueller Art, zu befriedigen? Da werden Religionskriege geführt und Rassengesetze verabschiedet, aber wenn es um den Austausch von Körperflüssigkeiten geht, nimmt man es mit den Vorgaben nicht so genau. Neville scheint Gedanken lesen zu können und versucht einem feministischen Gegenschlag zuvorkommen zu wollen, denn er analysiert mir die Vorteile, die sich für das weibliche Geschlecht daraus ergaben. Oft sei für eine Sklavin die Heirat mit einem Weißen der einzige Weg in die Freiheit gewesen, vorausgesetzt sie habe der „Dutch Reformed Church“ angehört und sei der Sprache der Weißen mächtig gewesen. Bis zum Jahre 1823 sei die Eheschließung unter Sklaven gar nicht möglich gewesen und danach nur für Christen und nachdem der Besitzer ihnen die Erlaubnis dazu gegeben habe. Aus diesem Grund konvertierten damals viele Muslime. Um heiraten und Familie gründen zu können. 

Neville versetzt mich erneut ins Staunen, hatte er doch kein einziges arabisches Land genannt. Woher kamen denn damals die Muslime? will ich neugierig wissen und die Antwort lässt nicht lange auf sich warten: Aus dem indonesischen Archipel. Es seien zum größten Teil politische Anführer gewesen, Aristokraten und gelehrte Muslime, die sich gegen die holländische Dominanz in den Kolonien aufgelehnt hätten und darum angeblich als Exilanten, eigentlich aber als Sklaven ans Kap verschleppt worden seien. In der Strafkolonie gaben sie dann einstweilen Ruhe. Etwas überfordert von der Masse an Informationen bereue ich es schon fast, Odysseus‘ Sohn überhaupt gefragt zu haben. Innerlich verfluche ich zum wiederholten Male meine Neugier, unternehme jedoch als unverbesserliche Lehrerin einen erneuten Versuch, die gerade vernommenen Informationen strukturiert zusammenzufassen: Also waren Sklaven damals Muslime und Hindi, während die Herren Christen waren? Neville bestätigt es: Solange Sklaven nicht getauft werden durften, war es so. Unglaublich, was für eine internationale und „multi-religiöse“ Sklavengesellschaft an der Südspitze Afrikas entstand, die den Grundstein für die heutige Zusammensetzung der südafrikanischen „rainbow nation“ legte. Von allein wäre ich nicht auf die Idee gekommen, dass die südafrikanischen „coloureds“ Mischlinge afrikanischer, asiatischer und europäischer Herkunft sind.

Als sich Neville auch der letzten Kamera annimmt, lobe ich seine historischen Kenntnisse und frage ihn, was er denn nun sei, ein „Cape-Coloured“ oder ein „Cape-Malay“? Christ oder Muslim? Guess, grinst er mich an. Etwas überfordert von dem ausführlichen, interaktiven Geschichtsunterricht tippe ich einfach auf „Cape-Coloured“ und treffe damit sogar ins Schwarze. Woran ich das erkannt habe, will er wissen. Lachend zucke ich die Achseln und er geht nicht weiter darauf ein, sondern erklärt mir stattdessen: Wenn die Herkunftsanalyse nicht gewesen wäre, hätte ich mich nie im Leben so intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt. Aber die Zusammensetzung meiner Gene hat mir doch zu denken gegeben. Lachend antworte ich ihm, dass er mich auf die Idee gebracht habe, es ihm gleich zu tun. Ist Ihre Familiengeschichte auch so kompliziert? Ich schüttle den Kopf, aber man wisse ja nie.

Auf jeden Fall habe er seitdem im Internet recherchiert und unzählige Bücher gewälzt. Wenn ich Interesse daran hätte, könne er mir gern einige empfehlen und er holt aus, um mir einige Titel zu nennen. Allesamt in Afrikaans. Mein Gesichtsausdruck verrät ihm, dass ich dieser Sprache nicht mächtig bin, was er in seinem Übereifer völlig vergessen hat und er schlägt sich mit der Hand gegen die Stirn. Prompt kommt er auf das nächste Thema und fragt mich, ob ich übrigens wisse, wie die Sprache Afrikaans entstanden sei. Soviel ich weiß aus dem Holländischen, antworte ich etwas verunsichert und ahne, dass ich es mir damit zu einfach mache. Odysseus´ Sohn weiß auch diesbezüglich mehr: Das Grundvokabular in der Kap-Kolonie sei zwar holländisch gewesen, aber eigentlich sei Afrikaans aus der Sprache zwischen Sklaven und Herren entstanden und enthalte somit bis heute viele malayische und afrikanische Elemente. Außerdem habe es viele Einwanderer aus Deutschland und Skandinavien und natürlich die Hugenotten gegeben, die damals aus religiösen Gründen Frankreich hätten verlassen müssen, sodass die Buren und ihre Sprache Afrikaans ein Produkt dieses Vielvölkergemisches sei. Aha, darum also die vielen französischen und deutschen Namen hierzulande!

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Als sich Herr Telemachus nach getaner Arbeit bei mir verabschiedet, schwirrt mir der Kopf von den vielen Informationen, die ich außerstande bin, auf Anhieb zu sortieren. Mit wachsender Besorgnis muss ich feststellen, dass diese Informationsschwemme nur mit einem gezielten Gehirnjogging zu meistern ist, denn sonst dürfte es weder um die Leistungsfähigkeit meiner grauen Zellen noch um die meines Gedächtnisses gut bestellt sein. Und vielleicht macht es sogar Sinn, Ahnenforschung zu betreiben um herauszufinden, wen ich für mein unzulängliches Gedächtnis verantwortlich machen könnte …

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Herzlichen Dank an Ute Petkakis fürs Gegenlesen!

 

Copyright 2018 Christina Antoniadou / All rights reserved

 

Beitragsbild:www.learnsouthafrica.com

 

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