von Christina Antoniadou
Meinen Beruf als Lehrerin übe ich überall aus. Da kann auch ein Umzug nach Johannesburg nichts gegen ausrichten. Entweder praktiziere ich den Skype-Unterricht mit Schülern, die nicht gleich um die Ecke wohnen, sondern in Europa, oder ich unterrichte physically und sitze den Schülern somit ganz traditionell gegenüber.
Am Nachmittag erwarte ich eine Gruppe junger Südafrikanerinnen, denen ich innerhalb kürzester Zeit so viel an Deutschkenntnissen vermitteln soll, dass sie im kommenden Mai bei einem deutschen Unternehmen in Stuttgart mit einem Praktikum beginnen können. Jemandem, der Afrikaans als Muttersprache spricht, fällt es relativ leicht, Deutsch zu lernen, denn diese südafrikanische Sprache ist – wie ich schon wiederholt erwähnt habe – eine Mischung aus Deutsch, Holländisch und Französisch.
Nach und nach kommen die drei Mädels, setzen sich an den Tisch und erzählen ein bisschen, wie der heutige Tag war. Sie heißen Ilka, Yvette und Melissa. Im Deutschbuch sind wir gerade bei der Lektion mit den Jahreszeiten. Die üblichen Fotos sind zu sehen, also ein Frühlingsfoto mit einer Wiese und bunten Blumen und auf dem Herbstfoto sind Bäume mit rot-gelber Laubverfärbung abgebildet. Dass Sommer und Winter auf der südlichen Erdhalbkugel spiegelverkehrt sind, haben wir schon geklärt, jetzt merken die Schülerinnen, dass es sich mit den Jahreszeiten Frühling und Herbst genauso verhält. Die Ostereier hängen in Südafrika nämlich an herbstlichen Zweigen und in den Monaten Oktober und November – also in der frühen Vorweihnachtszeit – ist es Balsam für die Seele, aber vor allem für das Auge, durch die Straßen mit dichtbewachsenen Jacaranda-Bäumen zu fahren oder spazieren zu gehen.
https://www.pinterest.co.uk
Bei dieser lila Blütenpracht kommt man kaum auf die Idee, dass man sich in der Vorweihnachtszeit befindet und sich bald Gedanken über die notwendigen Weihnachtsgeschenke machen sollte. Ilka, Yvette und Melissa teilen meine Begeisterung für diese Jacaranda-Bäume und sie pflichten mir bei, dass das die schönste Zeit in Joburg ist. Dabei erwähnt Melissa ganz nebenbei, dass sich die Idee, diese Bäume von weit her zu holen, doch langfristig bezahlt gemacht habe. Ich verstehe nicht, was sie meint und hake nach: So, Jacarandas are not African trees? Aber nein doch! Es folgt ein umfangreiches Geschichtsseminar, das uns vom Kursbuch und den europäischen Gewohnheiten abbringt und uns in das Jahr 1886 versetzt. Melissa erklärt, dass die hohen Bäume damals nicht zur Zierde angepflanzt worden seien, sondern einen bestimmten Zweck erfüllt hätten. Als nämlich im besagten Jahr am Witwatersrand in Transvaal – also ganz hier in der Nähe, wirft Yvette ein, – Gold gefunden worden und Goldbergwerke entstanden seien, die Südafrika zum größten Goldproduzenten der Welt machen sollten, sei Holz gebraucht worden, und zwar jede Menge. Also seien in Ermangelung geeigneter einheimischer Bäume kurzerhand welche aus dem Ausland importiert worden. Schnell wachsen sollten sie, möglichst in den Himmel. Und da es in der unmittelbaren Nachbarschaft keine gegeben habe, sei man genötigt gewesen, auf der Suche nach in Frage kommenden Stämmen weitere Kreise zu ziehen – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes – und sich Jacaranda aus Lateinamerika ins Land geholt. Und Eukalyptusbäume aus Australien, ergänzt Yvette wieder.
https://www.arch.hku.hk/research_project/atlas-of-gold-landscape
Tief imponiert von so viel Aufwand, denke ich mir meinen Teil: Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen und wenn es um Gold, Geld und Profit geht, scheut man keinerlei Ausgaben, weder für Fernreisen noch für den Transport. Aber diese Gedanken behalte ich sicherheitshalber für mich, denn wer weiß, von welchen Goldgräber-Urgroßvätern die drei Mädels abstammen, nunmehr in vierter oder fünfter Generation hier vor mir sitzen und meine Kommentare missverstehen könnten. Melissa fährt unermüdlich fort: Die Stämme der Eukalyptusbäume könnten Unmengen an Wasser absorbieren und hätten darum hervorragend dazu gedient, die feuchten unterirdischen Schächte als Balken abzustützen. Die Jacaranda dagegen seien zur Herstellung von Trögen genutzt worden, in denen die Goldbrocken genügend Platz gehabt hätten, um aus der Tiefe ihren Weg ans Tageslicht zu finden. If you are interested in seeing how they once used the wood of the trees, then you should do the Gold Reef City Mine Tour. That’s really interesting. Von den drei Mädels hat sich nur Melissa die Mühe gemacht, in den Schacht hinunterzusteigen und zwar aus gutem Grund: My grandfather’s grandfather used to work in the mines, that’s why our family did this tour when I was little. Also lag ich ganz richtig mit meiner Vermutung. Melissas Vorfahren stammen aus England und der Ururgroßvater hat damals am Witwatersrand sein Glück versucht.
Anders sieht es mit Yvettes Herkunft aus. Ihre Vorfahren waren Hugenotten, die Frankreich aus religiösen Gründen verlassen mussten und in Südafrika ein neues Leben beginnen wollten. Ilka hat mit dem Goldrush ebenfalls nichts zu tun, denn ihre Ahnen waren Boers, kamen somit drei Jahrhunderte vorher aus Holland und ließen sich am Cape nieder. Eigentlich hätte ich es mir denken können, auf was für eine Ahnengeschichte jede zurückschaut, denn an den Familiennamen ist es mehr oder weniger zu erkennen: Die Namen Smith, du Plessis und van der Weijden sprechen Bände. Melissa unterbricht meine Gedanken mit einer interessanten Information: We named our currency, the Rand, after Witwatersrand. Did you know that? Wie interessant! Melissa merkt, dass ich solche Hinweise liebe und erzählt weiter. Nur Ilka scheint sich zusehends zu langweilen, dabei ist das doch die Geschichte ihrer Heimat. Aber vermutlich wäre es ihr lieber, über den Great Trek, über die Flucht der Buren aus der Kapkolonie zu sprechen, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugetragen hatte.
Doch Melissa möchte die Geschichte des Goldes zu Ende bringen: Das Gold ist bald versiegt, erklärt sie darum, Schächte und Stollen sind verfallen. Was aber hoffentlich für die Ewigkeit bleibt, ist der Titel, den die Stadt durch die Jacaranda und Eukalyptusbäume für sich beansprucht als „the world’s largest urban forest”. Obwohl ich meine, etwas Ähnliches auch schon einmal über Rio de Janeiro und den Tijuca Forest gehört zu haben, wage ich nicht nachzufragen und freue mich stattdessen einfach nur darüber, dass ich in einer Stadt mit so vielen Alleen wohne. Seit Joburg meine Wahlheimat ist, kommt mir jede andere Stadt mit weniger Bäumen tatsächlich kahl vor. Auch wenn ich nicht wirklich das Gefühl habe, in einem forest zu leben, genieße ich Johannesburg vor allem in den Frühlingsmonaten Oktober und November. Wenn sich der lila Schleier über die Stadt legt, bis die Blüten abfallen und den langweiligen grauen Asphalt in einen wunderschönen fliederfarbigen Teppich verwandeln, ist die Stadt einfach nur unsagbar schön.
Durch die Stille um mich herum merke ich, dass dieses farbenfrohe Bild mit der Lehrerin durchgegangen ist, also versuche ich, mich wieder zu sammeln und auf das Kursbuch überzuleiten. Schließlich wartet Stuttgart auf die drei Damen, wo es ebenfalls genügend Bäume gibt.
https://www.thejacarandas.co.za
Herzlichen Dank an Ute Petkakis für das Gegenlesen!
Copyright 2018 Christina Antoniadou / All rights reserved
Beitragsbild:https://buzzsouthafrica.com
Ich habe Jacarandabäume in Buenos Aires gesehen, Nov. 2007, und war verzaubert.
Ich muss deinem Titel zustimmen. Dass diese wunderschönen Bäume importiert wurden, hätte man wohl nicht ahnen können.
Erstaunlich, was man beim Lehren alles lernen kann, nicht wahr?